US-Sicherheitskräfte haben gestern in der afghanischen Hauptstadt Kabul den Anführer des Al-Kaida-Terrornetzwerks, Aiman al-Sawahiri, getötet. Wie sich die Taliban künftig zu ihren einstigen Helfern stellten, bleibe abzuwarten, sagt Guido Steinberg, Experte für islamischen Terrrorismus bei der Stiftung Wissenschaft und Politik SWP.
SRF News: Welche Bedeutung hat der Tod von al-Sawahiri für Al-Kaida?
Guido Steinberg: Al-Kaida ist durch diesen Schlag noch etwas schwächer geworden. Die Organisation schaffte es in den letzten Jahren nicht, in der westlichen Welt grössere Anschläge zu verüben. Mit dem Verlust dieses wichtigen Anführers wird ihr das noch schwerer fallen.
Welche Rolle spielt Al-Kaida heute in Afghanistan?
Al-Kaida hat in Afghanistan eine wichtige Rolle gespielt. Sie ist seit 26 Jahren mit den Taliban verbündet und hat der afghanischen Organisation beigebracht, wie man improvisierte Sprengfallen herstellt und Selbstmordattentate mit Autobomben verübt. Sie haben deren Feuerkraft enorm gestärkt und dadurch den Sieg der Taliban von 2021 mit dem Rückzug der Amerikaner und dem Sturz der afghanischen Regierung erst möglich gemacht.
Die Taliban haben also profitiert. Profitiert jetzt auch Al-Kaida, indem sie bei den Taliban eine relativ sichere Operationsbasis haben?
So ganz sicher ist diese Basis nicht, wie jetzt die Amerikaner es vormachten. Aber es ist klar, dass die verbleibenden Al-Kaida-Teile in Afghanistan heute freier operieren können als noch vor ein oder zwei Jahren. Das ist durchaus eine Gefahr. Die Frage ist, ob es Al-Kaida gelingen wird, ihren Erfolg in Afghanistan auch in eine erneute Rekrutierung umzumünzen.
Es ist nicht bekannt, dass grössere Zahlen von Ausländern aus Europa, Zentralasien oder Afrika jetzt zu Al-Kaida gegangen sind, weil diese sich in Afghanistan mit den Taliban durchgesetzt hat. Es ist auch unklar, inwieweit die Taliban eine solche Rekrutierung zulassen würden. Mein Eindruck ist, dass Al-Kaida insgesamt Probleme mit der Rekrutierung hat, denn junge Leute gehen heute viel lieber zum Islamischen Staat.
Woran liegt das?
Das liegt vor allem an der Ideologie. Al-Kaida ist für viele eine Organisation von gestern. Sie kennen Aiman al-Sawahiri gar nicht richtig. Sie fragen sich vor allem, wer dieser alte Mann war, der da irgendwo aus den pakistanischen Bergen immer mal wieder Videos absetzte. Sie wissen aber sehr genau, was der IS ist, nämlich eine scharia-orientierte, kompromisslose Organisation, die im Hier und Jetzt ihre Ziele erreichen will. Junge Dschihadisten wollen sofort Action und Gewalt.
Wie sieht es mit der Schlagkraft von Al-Kaida aus? Wären Anschläge wie jene vom 11. September 2001 noch möglich?
Nein. Das liegt einerseits an Al-Kaida, die sehr viel schwächer geworden ist. Anderseits an den Gegenmassnahmen der USA und der Verbündeten. Bei Al-Kaida ist die Gefahr weniger, dass Anschläge in der westlichen Welt verübt werden. Vor allem in der Sahelzone und in Westafrika ist Al-Kaida dagegen so stark wie lange nicht und verhindert, dass Staaten stabiler werden.
Wie geht es jetzt mit Al-Kaida weiter?
Al-Kaida wird einige Probleme haben, einen Nachfolger zu finden. Die Nummer zwei ist ein Ägypter namens Saif al Adel, der schon seit Jahren in Iran lebt und einigen Handlungsspielraum geniesst. Ob aber die Organisation jemanden im prinzipiell feindseligen Iran zum Nachfolger macht, wird man wahrscheinlich erst in den nächsten Wochen oder Monaten erfahren.
Das Gespräch führte Christina Scheidegger.