Ein in Brüssel beliebtes Ratespiel läuft seit Jahren. Es heisst: Wer wird Nato-Generalsekretär? Amtsinhaber Jens Stoltenberg, bald 65, möchte seit langem abtreten. Voriges Jahr gab es ein breites Feld an qualifizierten Nachfolgekandidaten und vor allem Kandidatinnen.
Doch am Ende blieb der Norweger im Amt. Eine neuerliche, fünfte Verlängerung scheint ausgeschlossen. Zumal Stoltenberg null Lust verspüren dürfte, wieder jahrelang einem möglichen US-Präsidenten Donald Trump Honig um den Bart zu schmieren.
Gesucht: ein vermittelnder General
Ein Nato-Generalsekretär muss vor allem vermitteln. Er muss ebenso General wie Sekretär sein. Er muss die Allianz überzeugend nach aussen vertreten. Und er muss mit allen 31 Staats- und Regierungschefs der Mitgliedsländer klarkommen. Stoltenberg galt als Idealbesetzung.
Die Militärallianz erwartet seit geraumer Zeit auch, dass ihr Chef zuvor höchste Staatsämter bekleidet hat. Ein blosser Minister, eine Spitzendiplomatin reichen nicht. Und ohne den Segen der USA, des Seniorpartners in der Allianz, läuft ohnehin nichts.
Eine Frau oder ein Osteuropäer?
Voriges Jahr hiess es noch: Man hätte gerne erstmals jemanden aus Osteuropa und sehr gerne die erste Frau. Beides gilt nun nicht mehr. Der Lette Krisjanis Karins, die Litauerin Ingrida Simonyte und vor allem die zunächst hoch gehandelte und am Posten sehr interessierte Estin Kaja Kallas haben bloss noch Aussenseiterchancen.
Sie alle gelten als zu anti-russisch. Zwar soll die Nato notfalls Russland die Stirn bieten. Doch provozieren will man den Kreml keinesfalls.
Ursula von der Leyen wiederum nahm sich selbst aus dem Rennen, indem sie für eine zweite Amtszeit an der EU-Spitze kandidiert. Und die dänische Regierungschefin Mette Frederiksen verschwand plötzlich vom Tableau, weil sie in Washington nicht gut ankam. Warum, kann niemand so recht sagen.
Mark Rutte könnte es werden
Der klare Favorit heisst nun Mark Rutte, Langzeit-Ministerpräsident der Niederlande. Für ihn spricht, dass er – was er zu Hause bewiesen hat – Koalitionen schmieden und zusammenhalten kann. Er gilt als offen und umgänglich. Und vor allem kommt er einigermassen klar mit Donald Trump, was Bilder belegen sollen, die beide lachend und schulterklopfend im Weissen Haus zeigen.
Offenkundig ist: Trumps Schatten dräut bereits jetzt über der Nato. Gegen Rutte spricht wenig, ausser dass er bereits der vierte holländische Nato-Generalsekretär wäre, und die Osteuropäer, die Frontstaaten also, immer noch auf ihren ersten warten.
Wird Orbán mitmachen?
Laut Nato-Insidern stehen schon zwei Drittel der Mitgliedstaaten hinter Rutte. Es braucht aber Einstimmigkeit. Deshalb kann allenfalls auch hier der Ungar Viktor Orbán Sand ins Getriebe streuen. Er hätte womöglich am liebsten Wladimir Putin als Nato-Generalsekretär ...
Der Entscheid soll bald fallen, unbedingt vor den Europawahlen im Juni. Sonst wird die Besetzung der Nato-Spitze Teil des Postenschachers um EU-Führungspositionen.
Rutte hat inzwischen die Nase vorn – doch wie stets bei solchen Entscheidungen: Solange nicht alles geregelt ist, ist nichts geregelt.