Hat Spanien seine kränksten und schwächsten Menschen während der Coronazeit bewusst sterben lassen? Wurden zum Beispiel demente oder krebskranke Covid-19-Patientinnen und -Patienten gar nicht erst in ein Spital eingewiesen? Diese Fragen stellen sich jetzt, da ein Dokument der Regionalregierung von Madrid öffentlich geworden ist. Hans-Günter Kellner, Journalist in Madrid, hat es gelesen.
SRF News: Was genau steht in dem brisanten Dokument?
Hans-Günter Kellner: In den meisten Altersheimen in Spanien sind Pfleger tätig, zur medizinischen Versorgung sind sie auf Spitäler angewiesen. Doch während der Hochphase der Pandemie, als in den Notaufnahmen die Menschen teilweise auf Bettlaken auf dem Boden lagen, gab es die Anweisung an Altersheime, schwer kranke Patienten nicht mehr in die Spitäler zu bringen.
Das heisst, nur wenige Bewohnerinnen und Bewohner von Altersheimen wurden ins Spital eingewiesen, obwohl sie Covid-19 hatten?
Ja. In Madrid sind insgesamt 6000 Altersheimbewohner mit Covid-19-Symptomen gestorben. Davon starben bloss 13 Prozent in Krankenhäusern.
Wie sehr gibt das in Madrid und in ganz Spanien zu reden?
Es ist ein Riesenskandal und wird auch ein juristisches Nachspiel haben. 26 Familien klagen gegen die Madrider Regionalregierung – eine Koalitionsregierung. Dort ist der Streit offen entbrannt. Der Sozialminister, der für die Altersheime zuständig ist, wirft der eigenen Regierung vor, alten Menschen das Recht auf medizinische Versorgung vorenthalten zu haben.
Und wie reagieren die Verantwortlichen? Was ist ihre Verteidigung?
Der Gesundheitsminister und der Sozialminister sind Politiker von zwei unterschiedlichen Parteien. Ersterer verteidigt sich damit, dass die Dokumente nur Entwürfe gewesen seien. Allerdings ist das nicht sehr glaubwürdig, denn die Dokumente tragen auch elektronische Unterschriften des Ministers. Und Fakt ist, dass nur sehr wenige erkrankte Altersheim-Patienten tatsächlich in Spitäler überwiesen wurden.
Sie haben auch mit Verantwortlichen in Madrider Altersheimen gesprochen. Was sagen sie zu den Vorwürfen?
Für sie ist der eigentliche Skandal nicht, dass die Menschen nicht in die Spitäler überwiesen worden sind. Denn die Spitäler waren ja völlig überlastet. Und es ist tatsächlich fraglich, ob Krebspatienten oder Alzheimerkranke im fortgeschrittenen Stadium in Spitälern besser aufgehoben gewesen wären.
Altersheime bekommen in Madrid 55 Euro pro Patient am Tag. Es ist schwer, damit eine 24-Stunden-Versorgung von hoher Qualität aufrechtzuerhalten.
Für sie ist der Skandal, dass keine Ärzte in den Heimen vorbeigekommen sind. Eine Leiterin eines Altersheims sagte mir: «Wir haben nur Morphium bekommen, und das war der süsse Tod.» Das heisst, es gab keine Therapien, nur Morphium. Und wer Morphium bekam, war nach drei Tagen tot.
Die Coronakrise hat Probleme in den spanischen Altersheimen offengelegt. Ist das der Anstoss dafür, dass man am System etwas ändert?
Die Altersheime und die karitativen Verbände fordern schon lange, dass sich das System und auch die Finanzierung ändert. Altersheime bekommen in Madrid 55 Euro pro Patient und Tag. Es ist schwer, damit eine 24-Stunden-Versorgung von hoher Qualität aufrechtzuerhalten. Aber auch der spanische Ministerpräsident Pedro Sánchez fordert nun, dass das Modell der Altersheime in Spanien und der Altenpflege insgesamt überdacht wird.
Das Gespräch führte Isabelle Maissen.