SRF News: Herr Verheugen, sind Sie jetzt – nach der Einigung mit Athen – erleichtert?
Günter Verheugen: Nicht besonders. Ich stimme Romano Prodi zu, der gesagt hat, man hat zwar das Schlimmste verhindert, aber nicht das Schlimme. Ich bin keineswegs sicher, dass wir die Krise mit der Entscheidung vom vergangenen Sonntag tatsächlich hinter uns haben. Niemand glaubt, dass die Schuldentragfähigkeit Griechenlands gegeben ist. Dafür gelten aber noch härtere Bedingungen als in der Vergangenheit, die tief in die Souveränität eines EU-Landes eingreifen. Und selbst wenn Griechenland diese alle erfüllt, sind die Aussichten, dass das Land innerhalb der nächsten Jahre auf einen gesunden, wirtschaftlichen Wachstumspfad kommt, ausserordentlich gering.
Hätte man eine andere Möglichkeit gehabt als dieses strenge Sparprogramm?
Ich denke schon. Die andere Möglichkeit wäre gewesen, eine langfristige und vollständige Lösung anzustreben. Das heisst, ein Wachstumsprogramm für Griechenland zu verbinden mit einem beachtlichen Forderungsverzicht. Das ist ja auch das, was der IWF seit langer Zeit sagt: Es wird nicht gehen, ohne die Last der Schulden, die auf Griechenland liegt, deutlich zu verringern. Mit der jetzigen Situation – immer höhere Schulden und eine Sparpolitik, die die nationale Volkswirtschaft abwürgen wird – kann das Problem nicht gelöst werden. Darüber hinaus haben wir nun eine ganze Reihe von europäischen Fragen, die dieser Gipfel aufgeworfen hat, und die erst im Laufe der Zeit richtig klar werden.
Man hat zwar das Schlimmste verhindert, aber nicht das Schlimme.
Welche europäischen Fragen stellen sich denn?
Ich glaube, dass in den Regierungen der Mitgliedsstaaten in nächster Zeit die Frage gestellt werden wird, was hat Deutschland da eigentlich gemacht? Die Position war ganz anders als die bisherige Haltung Deutschlands in allen europäischen Fragen: kompromisslos, hart. Die kleineren Länder Europas haben gesehen, welche Position Deutschland einnehmen kann, wenn einer nicht das tut, was die reichen und mächtigen Deutschen wollen. Und das ist genau das Bild von Deutschland, das wir in Europa unter gar keinen Umständen haben wollen und dürfen.
Doch ohne diese klaren Sparversprechen konnte Griechenland Deutschland ja nicht davon überzeugen, noch mehr Geld zu schicken?
Den Deutschen hat man über Jahre erzählt, es seien Milliarden in die Griechenland-Rettung geflossen. Das war in Wahrheit aber Geld, das in die Bankenrettung geflossen ist. Auch hier hat der IWF von Anfang an die richtige Frage gestellt: Warum sind eigentlich nicht diejenigen herangezogen worden, die dem verantwortungslosen Schuldner als verantwortungslose Geldgeber gegenüber standen? Die Deutschen glauben, sie hätten diese ganze Last alleine zu schultern, und das ganze schöne deutsche Geld ginge an die faulen Griechen. Richtig ist, dass wir es in Griechenland mit strukturellen Problemen zu tun haben, die sich über Jahrzehnte aufgebaut haben.
Tatsache ist, dass Griechenland mehr ausgegeben hat und die Einkommen höher waren als die tatsächliche Wirtschaftsleistung. Das muss man doch korrigieren?
Das ist völlig richtig, das muss korrigiert werden. Den Fehler haben auch andere gemacht. Und man muss auch sagen, dass so etwas überhaupt erst möglich war, weil die Währungsunion falsch konstruiert ist. An Warnungen hat es seinerzeit nicht gefehlt. Man hat aber gedacht, das könne man schon kontrollieren. Man konnte oder wollte das aber nicht kontrollieren. Dass es so nicht geht, ist selbstverständlich. Dass auch die Konstruktionsfehler der Währungsunion von der Führung der EU und den Mitgliedsstaaten endlich angepackt werden müssen, ist klar, dem stimme ich zu.
Sie waren mitten drin als EU-Kommissar. Hat man damals nicht gewusst, dass Griechenlands Haushalt nicht ganz so fit ist?
Die EU-Kommission hatte gesagt, die griechischen Zahlen seien unzureichend. Athen bekam dann eine Frist zum Nachbessern. Ich kann mich sehr gut an diese Kommissions-Sitzung erinnern. Der zuständige Kommissar, der frühere spanische Finanzminister Solbes, sagte, die Zahlen seien jetzt in Ordnung. Heute wissen wir, dass diese manipuliert worden waren. Und wir wissen auch, dass eine amerikanische Grossbank dabei behilflich war, eine Art Bilanzverschleierung zu betreiben. Das haben wir damals aber nicht gewusst.
Die Deutschen glauben, das ganze schöne deutsche Geld ginge an die faulen Griechen.
Weder die Kommission noch die Finanzminister haben damals grosse Bedenken gehabt. Ich kann mich nicht erinnern, dass es grosse Diskussionen gegeben hätte. Man gab sich damit zufrieden, dass die Zahlen stimmten. Dann hat man zehn Jahre lang nicht genau hingeschaut. Weder die Entwicklung der Realwirtschaft noch die Schuldenstände wurden sorgfältig genug beobachtet. Dies auch deshalb, weil der Europäischen Kommission damals zumindest die Möglichkeiten gefehlt haben, das zu tun. Die Mitgliedsländer wollten ja nicht, dass die Kommission in den Mitgliedsstaaten selbst die Daten erheben oder wenigstens prüfen kann.
Das heisst, man wollte aus politischen Gründen nicht so genau hinschauen?
Das halte ich für gut möglich, so wie es ja auch beim Beitritt Griechenlands zur Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft bereits passiert war. Auch damals, 1979-1981, hatte die Kommission gesagt, das Land ist nicht reif für den Beitritt. Aber die Mitgliedsstaaten hatten gesagt, aus politischen Gründen – Griechenland hatte gerade eine Diktatur hinter sich – müssen wir die Demokratie stabilisieren. Das sind ernsthafte Argumente. Also hat man damals gesagt, wir machen es doch. Aber dann hätte Griechenland damals schon einen anderen Beitrittsvertrag gebraucht. Und man hätte sich intensiv um die Entwicklung kümmern müssen. Aber man hat geglaubt, man schickt Geld dahin, und dann ist es gut. Doch es war eben nicht gut.
Sie sind für eine tiefere Union, bei der die Staaten auf mehr Souveränität verzichten. Aber dafür gibt es weit und breit keine Mehrheiten in Europa...
Das ist genau das Problem. Die Mehrheit gibt es deshalb nicht, weil niemand dafür kämpft. Viele grosse Fortschritte in der europäischen Integration mussten erkämpft werden. Man muss den Menschen sagen, warum es notwendig ist, sie versuchen, zu überzeugen und mitzunehmen. Das geschieht im Moment überhaupt nicht. Und ich fürchte, wir haben nicht mehr sehr viel Zeit. Es ist ja keineswegs so, als seien alle schwachen Mitglieder der Eurozone bereits über den Berg. Die Krise kann sich jederzeit wieder verschärfen.
Das Gespräch führte Roman Filliger.