Trotz der Waffenruhe, die seit einer Woche in Kraft ist, feuern sowohl die Hisbollah als auch die israelische Armee Raketen ab – bei einem Angriff auf den Süden Libanons sind laut libanesischen Angaben elf Personen getötet worden. SRF-Nahostkorrespondent Thomas Gutersohn schätzt die Lage ein.
Ist diese Waffenruhe überhaupt noch eine Waffenruhe?
Man kann schon noch von einer Waffenruhe sprechen, solange beide Parteien diese nicht offiziell aufbrechen. Aber es kam in den letzten Tagen mehrfach zu Verletzungen – so hat zum Beispiel die israelische Armee einen Bagger der libanesischen Armee beschossen, ein Soldat wurde verletzt. Das war klar ein Verstoss gegen die Waffenruhe – die libanesische Armee hat das Mandat, im Süden des Libanons für Sicherheit zu sorgen. Gleichzeitig hat die Hisbollah gestern Raketen auf die umstrittenen Sheba-Felder abgefeuert, die von Israel besetzt werden. Diese Vorfälle beweisen, wie fragil die Situation ist und dass diese Waffenruhe jeden Tag neu bewiesen werden muss.
Wieso kommt es zu gegenseitigen Angriffen?
Zurzeit befinden sich nach wie vor israelische Soldaten im Libanon, die sich in den nächsten zwei Monaten zurückziehen sollen. Das ist eine rote Linie für die Hisbollah, die sie so eigentlich nicht akzeptieren kann. Das zeigt auch, wie einseitig diese Waffenruhe ausgehandelt wurde. Die Hisbollah muss sich bis Anfang Jahr auf ihre Gebiete zurückziehen, während israelische Soldaten noch im Libanon bleiben können. Die aktuellen Angriffe der Hisbollah zeigen, dass damit nicht alle Kämpfer und Gruppierungen einverstanden sind. Die Hisbollah spricht dabei von einem Warnschuss – auch die Hisbollah will sich also noch an die Waffenruhe halten. Aber die Situation ist schon gefährlich.
Welche Rolle spielt dabei eine Untersuchungskommission?
Das ist Teil der Waffenruhe: Wenn es zu Verletzungen kommt, dann soll diese eine Kommission untersuchen. Bei der Kommission sind auch Staaten wie die USA und Frankreich dabei. Aber es liegt auf der Hand, dass diese Kommission nicht von groben Verletzungen oder gar von einem Bruch der Waffenruhe sprechen wird. Denn es gibt den internationalen Konsens, dass die Waffenruhe halten muss. Gerade die USA unter der Regierung Biden, welche die Waffenruhe ausgehandelt und als einen Erfolg bezeichnet hatte, hat überhaupt kein Interesse, diese nach einer Woche schon aufzulösen. Die Kommission wird wahrscheinlich mehr versuchen zu beschwichtigen, auch wenn beide Seiten mittlerweile die Waffenruhe verletzt haben.
Was hat die Waffenruhe konkret gebracht?
Sie hat den Konflikt etwas beruhigt – und vor allem hat sie eine Option für einen Ausweg gegeben. Noch letzte Woche hat die israelische Armee die libanesische Hauptstadt Beirut und andere Städte massiv bombardiert – viele Zivilisten kamen ums Leben. Gleichzeitig hat auch die Hisbollah fast täglich Raketen nach Israel abgefeuert, ebenfalls nicht auf unbesiedeltes Gebiet. Die Waffenruhe hat zudem vielen Libanesinnen und Libanesen erlaubt, in ihre Dörfer zurückzukehren – auch wenn wahrscheinlich mehr Menschen zurückgekehrt sind, als das der israelischen Armee lieb ist. Es kommt zu Scharmützeln in den Grenzdörfern, in denen immer noch israelische Soldaten sind, aber vor deren Toren die Leute warten, um zurückzukehren. Das führt zu Spannungen. Die Waffenruhe hat die Lage also nicht komplett entspannt, aber sie hat bisher zumindest tatsächlich zu einer Beruhigung des Konfliktes beigetragen. Eine Beruhigung, die beiderseits bitter nötig war.