Auf den ersten Blick ist die Waffenruhe ein voller Erfolg für Israels Ministerpräsidenten Benjamin Netanjahu. Innert weniger Wochen haben die israelischen Streitkräfte und Geheimdienste den libanesischen Gegner massiv geschwächt: Hisbollah-Chef Hassan Nasrallah wurde getötet, und mit ihm ein Grossteil des Kaders der schiitischen Miliz. Tausende weitere Hisbollah-Mitglieder wurden durch die Pager-Attacken von Mitte September verstümmelt oder ebenfalls getötet. Ihr Waffenarsenal wurde stark dezimiert.
Verknüpfung mit Gaza aufgegeben
Tatsächlich ist Netanjahu etwas gelungen, das lange Zeit ausgeschlossen schien: Die beiden Kriegszonen, Gaza und Libanon, voneinander zu lösen. Die Hisbollah beharrte lange darauf, ihre Raketen- und Drohnenangriffe auf Israel erst einzustellen, wenn auch eine Waffenruhe in Gaza beschlossen würde. Diese Bedingung hat die schiitische Miliz nun fallengelassen: Sie kann das wirtschaftlich und politisch darniederliegende Land nicht in einen ewigen Krieg mit Israel verwickeln, ohne die Gräben im konfessionell und politisch gespaltenen Land noch stärker aufzureissen.
Israel hat die Hisbollah also ein Stück weit in die Knie gezwungen, aber nicht zerstört. Das war auch nie das Ziel. Ganz im Gegensatz zu Gaza, wo die totale Vernichtung der Hamas eines der Kriegsziele ist und bleibt.
Hamas ist längst isoliert
In seiner Fernsehansprache am Dienstagabend sagte Netanjahu, Ziel des Abkommens sei es, die Hamas zu isolieren. Doch: Ist sie das nicht schon längst? Seit Monaten signalisiert die islamistische Organisation ihre Bereitschaft, die Waffen ruhen und die Geiseln freizulassen, wenn Israel seine Truppen abzieht und die Angriffe einstellt. Die Kontrolle über den Küstenstreifen hat die Hamas nicht mehr voll und ganz. Die Zerstörungen sind gewaltig.
Wieso ist in Libanon möglich, was in Gaza ausgeschlossen scheint? Für Netanjahu ist es einfacher, seinen extremistischen Koalitionspartnern eine Waffenruhe mit der Hisbollah zu verkaufen. Ihnen ist es wichtiger, Gaza unter Kontrolle zu behalten und bestenfalls wieder zu besiedeln. Und: Nach dem Wahlsieg von Donald Trump in den USA werden die geopolitischen Karten neu gemischt. Iran, Schutzpatron der Hisbollah und der Hamas, scheint vorsichtig abzuwarten, wie sich der neu-alte US-Präsident positionieren wird.
Atempause – aber nicht in Gaza
Für die Libanesinnen und Libanesen jedenfalls verspricht die 60-tägige Feuerpause eine langersehnte Atempause. Gut 60'000 Bewohnerinnen und Bewohner Nordisraels wünschen sich eine Rückkehr in ihre Häuser und Dörfer – und all jene, die in ihrer Heimat ausharrten und ein gutes Jahr unter Dauerbeschuss der Hisbollah standen, endlich Ruhe.
Für die gut zwei Millionen Einwohnerinnen und Einwohner Gazas hingegen wird sich auf absehbare Zeit nichts an ihrer Misere ändern.