Seit Anfang Oktober demonstrieren in Irak täglich Tausende Menschen gegen das Regime und gegen die Korruption. Es rieche nach Revolution, sagt die in Irak lebende Journalistin Birgit Svensson.
SRF News: Wie ist derzeit die Stimmung in den Strassen Bagdads?
Birgit Svensson: Sie ist sehr euphorisch und vergleichbar mit der Stimmung bei der ägyptischen Revolution 2011, die zur Absetzung des damaligen Präsidenten Hosni Mubarak geführt hat. Die Leute treffen sich auch in Bagdad auf dem Tahrir-Platz. Dort sieht man viele strahlende Gesichter – die Leute sind überzeugt davon, einen Regimewechsel erzwingen zu können.
Gehen die Behörden immer noch so hart gegen die Protestierenden vor?
Premier Adel Abdel Mahdi sagte in einer Ansprache am Dienstag, man könne einen Regierungswechsel nicht einfach so zulassen. Das müsse im Kabinett entschieden werden. Auch sagte er, die Demonstrationen in zahlreichen Städten im Süden des Landes müssten endlich beendet werden. Ob das bedeutet, dass die Sicherheitskräfte jetzt noch brachialer gegen die Protestierenden vorgehen werden, ist unklar.
Agenturmeldungen deuten darauf hin, dass die Stimmung recht gewalttätig ist. Können Sie das bestätigen?
Im Lager der Demonstranten herrscht sicher keine solche Stimmung. In Bagdad hausen sie rund um den Tahrir-Platz auf rund einem Kilometer Länge in einer Art Camp. Es gibt dort Zelte, die Leute liegen auf Matratzen, es gibt Lesungen und sogar Frisöre.
Im Camp der Demonstranten herrscht eine Art Partystimmung.
Viele irakische Fahnen wehen im Wind – es herrscht eher eine Art Partystimmung. Dabei wird die Einheit Iraks betont. Es scheint, dass die Auseinandersetzungen zwischen den Sunniten, Schiiten und Kurden vorbei sei – die Leute fühlen sich als Iraker. Ihr Slogan heisst denn auch: «Wir sind Iraker, wir wollen über unser Land bestimmen».
Was sind das für Leute, die an den Protesten teilnehmen?
Zu Beginn waren es vor allem Arbeitslose, mittlerweile beteiligen sich Studentenverbände, Ärztevereinigungen, Lehrer oder Professoren an den Protesten. Auch ganze Busladungen Stammesangehörige und -führer aus dem Süden sind inzwischen in Bagdad eingetroffen. Sie liessen verlauten, nicht eher wieder abzuziehen, bevor eine neue Regierung im Amt sei.
Die Protestierenden fordern einen Regierungswechsel und ein Ende der Korruption. Was sonst noch?
Zu Beginn wurden mehr Jobs – die offizielle Arbeitslosigkeit unter den jungen Irakern liegt offiziellen Angaben zufolge bei 25 Prozent –, mehr Strom, besseres Wasser, besserer öffentlicher Service gefordert.
Sie wollen ein Ende des von den USA eingeführten Proporzsystems in der Regierung.
Inzwischen wollen sie nicht nur den Sturz der aktuellen Regierung, sondern auch ein Ende des von den Amerikanern vor 15 Jahren eingeführten Proporzsystems. Dieses zementiert die Machtverteilung zwischen Sunniten, Schiiten und Kurden und ist laut den Demonstranten der Schlüssel zur grassierenden Korruption in der Politik.
Die Demonstranten scheinen entschlossen zu sein, bis zur Erreichung ihrer Ziele weiterzumachen. Riecht es nach Revolution in Irak?
Tatsächlich sprechen auch die Protestierenden von einer Revolution. Ob es tatsächlich eine solche wird, werden wir sehen. Es sind ja nicht nur die Iraker, die hier über ihr Schicksal bestimmen. Auch ausländische Kräfte sprechen da mit. So ist denn auch eine der Forderungen der Demonstrierenden, dass Iran, die USA und die Türkei das Land unverzüglich verlassen sollen.
Das Gespräch führte Janis Fahrländer.