Am 12. September treten in Israel alle 15 Richterinnen und Richter des Obersten Gerichts zusammen. Sie werden sich Klagen gegen ein Herzstück der hochumstrittenen «Justizreform» der Regierung anhören. Je nachdem, was das Höchste Gericht macht, kommt es in Israel zu einer gefährlichen Staatskrise.
Worum geht es?
Premier Benjamin Netanjahus rechtsradikale, ultra-religiöse Parlamentsmehrheit hat vor der Sommerpause ein Gesetz verabschiedet, welches die Macht des Obersten Gerichts stark beschränkt. Faktisch kann die Mehrheit im Parlament jedes beliebige Gesetz erlassen. Selbst Gesetze, die Minderheiten diskriminieren, gegen Menschenrechte verstossen oder Korruption begünstigen, dürfen vom Höchsten Gericht nicht mehr für ungültig erklärt werden. Die politische Mehrheit im Land könnte also willkürliche Gesetze erlassen, die alleine in ihrem Interesse sind.
Das Gesetz, das die Macht des Obersten Gerichts beschränkt, ist in Kraft. Darf denn das Gericht überhaupt über dieses Gesetz entscheiden?
Das ist genau der Haken. Laut geltendem Gesetz hat das Gericht keine juristische Grundlage, um dieses hochumstrittene Grundgesetz für ungültig zu erklären. Regierungsvertreter, inklusive Premier Netanjahu, haben dem Gericht deshalb mit Konsequenzen gedroht, sollte es sich nicht ans geltende Gesetz halten oder dieses gar für ungültig erklären. Denn damit würde das Gericht das Gesetz brechen.
Was passiert, wenn das Oberste Gericht das Gesetz trotzdem für ungültig erklärt?
Dann kommt es zur Staatskrise, weil die Gesellschaft, die Führung staatlicher Institutionen und Staatsbeamte entscheiden müssten, wem sie folgen wollen: der Regierung oder dem Obersten Gericht. Ein mögliches Szenario: Sollten sich Armeeführung und Geheimdienste hinter das Gericht stellen und damit gegen die Regierung, wäre das faktisch ein militärischer Coup. Denn ohne Unterstützung des Militärs ist die Regierung machtlos. Gleichzeitig ist die Armee gespalten. In Israel gilt die allgemeine Wehrpflicht für Frauen und Männer. Entsprechend steht ein Teil der Armeeangehörigen hinter der Regierung, ein anderer Teil dagegen. Das heisst: Ein Entscheid des Obersten Gerichts könnte Israel an den Rand eines Bürgerkrieges bringen.
Niemand in Israel will einen Bürgerkrieg. Sind den obersten Richtern die Hände gebunden?
Ja und nein. Israel hat keine Verfassung. Es hat nur eine Serie von Grundgesetzen. Das Oberste Gericht hat diese zwar vor Jahren als eine Art Verfassung bezeichnet. Eine richtige Verfassung sind diese Gesetze jedoch nicht, und bieten deshalb keine Anleitung, wie ein Konflikt wie dieser gelöst werden könnte. Das macht es den Richtern so schwer, zu entscheiden.
Was für Möglichkeiten haben denn die Richterinnen und Richter unter diesen Umständen?
Sie können das Gesetz stehen lassen. Dann könnte die Regierung ungehindert Gesetze verabschieden, welche zum Beispiel Frauenrechte aushebeln. Sie können das Gesetz für ungültig erklären: damit provozieren sie eine Staatskrise. Sie können sich aber auch vor einem Entscheid drücken, und das Gesetz etwas abschwächen. Auch das ist allerdings heikel, weil die amtierende Regierung und ihre Anhängerschaft nicht kompromissbereit zu sein scheint.
Wann entscheidet das Oberste Gericht?
Das ist noch völlig unklar. Es hat maximal 90 Tage Zeit, sich mit den Klagen gegen das Gesetz zu befassen.