Die UNO-Generalversammlung will klären, ob Israel verpflichtet ist, internationalen Organisationen Zugang zum Gazastreifen zu geben. Was von der Anhörung vor dem Internationalen Gerichtshof in Den Haag (IGH) zu erwarten ist, erklärt Fredy Gsteiger, diplomatischer Korrespondent von SRF.
Warum ist der Staat Israel vor Gericht nicht anwesend?
Die israelische Führung empfindet die UNO und ihre Organe als israelfeindlich und kritisiert sie seit Jahren, besonders scharf seit dem Hamas-Grossangriff auf Israel. Das Land hat die Zusammenarbeit mit der UNO eingeschränkt: UNO-Generalsekretär Guterres wurde zur Persona non grata erklärt. Aus dem UNO-Menschenrechtsrat ist Israel ausgetreten. Nun will man offenkundig auch Distanz zum obersten UNO-Gerichtshof signalisieren.
Was passiert in den nächsten Tagen vor dem IGH?
Dort werden neben Palästina rund 40 Länder – darunter die USA und auch die Schweiz – Stellung beziehen. Die Marathonanhörung wird die ganze Woche dauern. Israel wird seine Position nur schriftlich vorlegen. Israels Aussenminister Gideon Saar sprach bereits von einem weiteren Versuch, Israel zu delegitimieren. Das zeigt: Israel ist es nicht unwichtig, was in Den Haag passiert und es ärgert sich sehr darüber.
Was sagt Israel zum Vorwurf, es verletze Völkerrecht?
Israel bestreitet den Vorwurf und argumentiert, die humanitäre Hilfe für Gaza komme primär der Terrororganisation Hamas zugute. Der Vorwurf ist nicht ganz von der Hand zu weisen, weil humanitäre Hilfe in den meisten Konflikten auch politisch missbraucht wird – wie etwa damals durch das Assad-Regime in Syrien.
Es gibt aber auch israelische Regierungsvertreter, die offen sagen, es gehe bei der Blockierung der humanitären Hilfe seit dem 2. März nicht zuletzt darum, Druck auf die Hamas zu machen, die verbliebenen Geiseln freizupressen und das militärische Ziel zu erreichen, die Hamas zu vernichten. Gemäss dem humanitären Kriegsvölkerrecht und den Genfer Konventionen dürfen solche politischen Ziele – so legitim sie sein mögen – nicht verknüpft werden mit der Blockierung humanitärer Hilfe für die Zivilbevölkerung.
Ist absehbar, zu welchem Schluss das Gericht kommen wird?
Die Wahrscheinlichkeit ist gross, dass das UNO-Gericht im Gutachten zum Schluss kommt, dass Israel die Genfer Konventionen verletzt und den humanitären Organisationen mehr Spielraum geben muss. Also jenen der UNO wie UNRWA, OCHA, Unicef und WFP, aber auch jenen ausserhalb wie etwa dem IKRK. Denn die Totalblockierung ist ein krasser Fall. Humanitäre Hilfe zuzulassen, ist gemäss Völkerrecht kein freiwilliges Entgegenkommen, sondern eine Pflicht.
Das Resultat wird ein nicht verbindliches Gutachten sein, was ist das wert?
Gutachten und Urteile internationaler Gerichte setzen zumindest Massstäbe. Doch anders als die Urteile nationaler Gerichte lassen sie sich praktisch nicht durchsetzen. Der UNO-Sicherheitsrat verfügt zwar theoretisch über Druckmittel wie Sanktionen. Aber er ist im Israel-Palästina-Konflikt wegen des US-Vetos gelähmt – genauso im Ukraine-Krieg wegen des russischen Vetos.
Welche Konsequenzen hätte dies für Israel?
Israel dürfte auch diese Entscheidung des obersten UNO-Gerichts ignorieren. Natürlich erhöht aber ein solches Gutachten den politischen Druck auf Israel, das international zunehmend isoliert ist. Es beeinflusst die öffentliche Meinung in vielen Ländern. Es hängt also stark davon ab, wie sehr und wie viele Regierungen eine Entscheidung des IGH zum Anlass nehmen, selber zu handeln.