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Krieg in Nahost Wie Israel die Pufferzone in Gaza erweitert

Ehemalige Soldaten kritisieren die Einsatzregeln der israelischen Armee im Gazastreifen. Die Lebensgrundlagen würden zerstört.

Der Titel des Berichts ist nüchtern, doch sein Inhalt ist es nicht: «Der Perimeter, 2023–2024» zeigt auf, wie die israelische Armee gleich nach dem Überfall der Hamas vom 7. Oktober 2023 und dem Beginn des Krieges damit angefangen hat, die Pufferzone – also den «Perimeter» – innerhalb des Gazastreifens zu vergrössern. Die israelische Nicht­regierungs­organisation «Breaking the Silence» hat für die Publikation mit Soldaten gesprochen, die in Gaza im Einsatz waren.

Einer der Soldaten sagte uns, es habe ausgesehen wie in Hiroshima.
Autor: Joel Carmel von «Breaking the Silence»

«Die israelische Regierung entschied damals, dass innerhalb dieses Perimeters, etwa einen Kilometer tief im Gazastreifen, nichts übrig bleiben sollte», sagt Joel Carmel von «Breaking the Silence». Die Soldaten hätten erzählt, wie sie dazu schweres Gerät und Bulldozer verwendet hätten. Alles sei dem Erdboden gleichgemacht worden. «Einer der Soldaten, der Zeugnis abgelegt hat, sagte uns, es habe ausgesehen wie Hiroshima.»

Lebensgrundlagen zerstört

Nicht nur Häuser seien zerstört worden, sondern auch wirtschaftliche Infrastruktur wie Ackerflächen und Fabriken. «Das bedeutet, dass es für die Palästinenserinnen und Palästinenser sehr schwierig sein wird, in Zukunft noch eine Lebensgrundlage in Gaza zu haben», sagt Carmel.

Die israelische Armee zum Bericht von «Breaking the Silence»:

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«Die IDF (Israel Defense Forces) sind dazu verpflichtet, die Einwohner des Staates Israel vor den Bedrohungen durch die Hamas und andere terroristische Organisationen im Gazastreifen zu schützen, unter anderem durch eine aktualisierte und relevante Verteidigungsstrategie. 

Anders als im Bericht dargestellt, zerstören die IDF im Rahmen der Umsetzung der Verteidigungsstrategie und in Übereinstimmung mit den Direktiven der politischen Ebene terroristische Infrastrukturen, verstärken die Verteidigungskomponenten in den Gemeinden, unterhalten eine breite Militärpräsenz in der an Israel angrenzenden Sicherheitszone und arbeiten an der Beseitigung von Bedrohungen in diesem Gebiet. Diese Massnahmen sind essenziell, um die Hamas und andere terroristische Organisationen daran zu hindern, in dem Gebiet zu operieren. Gleichzeitig dienen sie dem Schutz der israelischen Streitkräfte sowie der Sicherheit der israelischen Bevölkerung. All dies geschieht im Einklang mit dem Völkerrecht und im Bewusstsein, dass die Einrichtung einer Sicherheitszone ein zentraler Bestandteil der Fähigkeit der IDF ist, den Feind an der Durchführung weiterer terroristischer Angriffe wie dem Massaker vom 7. Oktober 2023 zu hindern.

Als Teil des Bodenmanövers und auf der Grundlage der Sicherheitslage halten die IDF eine Sicherheitspräsenz in dem Gebiet aufrecht, im Einklang mit einer laufenden Lagebeurteilung.»

Der Perimeter wurde zu einer Zone, die niemand betreten durfte. Die Soldaten beschrieben die Einsatzregeln wie folgt: «Wer sich den israelischen Truppen näherte, wurde beschossen. Einige Soldaten sagten uns, der Befehl habe gelautet, alle zu erschiessen. Andere erzählten, Männer im wehrfähigen Alter sollten getötet werden – eine eher vage Definition. Frauen und Kinder hingegen sollten mit Warnschüssen in die Flucht geschlagen werden.» Doch in solchen Situationen und auf grosse Distanzen würden Fehler passieren.

Verteidigungsminister bestätigt Landnahme

Die israelische Armee sagt, ihre Operationen in Gaza seien völkerrechtlich legitim und dienten dem Schutz Israels. Joel Carmel von «Breaking the Silence» sieht noch ein anderes Motiv: Territorium. «Seit der Waffenstillstand zusammengebrochen ist, wurde der Perimeter massiv vergrössert. Die Armee hat die palästinensische Bevölkerung angewiesen, grosse Gebiete zu verlassen. Verschiedene Medien und Organisationen errechnen, dass wir jetzt schon 50 Prozent des Gazastreifens kontrollieren.»

Die UNO schreibt, dass zurzeit sogar fast 70 Prozent des gesamten Territoriums entweder unter Evakuierungsbefehl stehen oder sich in einer «No-go-Zone» befinden, die Palästinenserinnen und Palästinenser nicht betreten dürfen.

«Breaking the Silence»: Kritik und Patriotismus

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Die Nichtregierungsorganisation «Breaking the Silence» dokumentiert seit gut 20 Jahren Zeugnisse israelischer Soldatinnen und Soldaten, die im besetzten Westjordanland oder in Gaza Dienst geleistet haben.

Die Organisation lehnt die Besetzung der palästinensischen Gebiete ab und setzt sich für eine friedliche Lösung des Nahost-Konflikts ein – für alle Menschen, die in dem Gebiet leben, Israeli und Palästinenser. 

Joel Carmel ist Interessenvertreter von «Breaking the Silence» und auch ehemaliger IDF-Soldat. Die Kritik, «Breaking the Silence» sei anti-israelisch, findet er ironisch. Als ehemalige Soldaten hätten sie alle ihrem Land gedient und dafür ihr Leben riskiert. «Wir müssen darüber sprechen, was wir als Soldaten getan haben. Das ist ein patriotischer Akt.» Als Bürgerinnen und Bürger würden sie Verantwortung dafür tragen, eine bessere Zukunft zu schaffen, für beide Seiten in diesem Konflikt.

Verteidigungsminister Israel Katz hat anlässlich eines Besuchs in Gaza bestätigt, dass viele Gebiete erobert und der sogenannten Sicherheitszone zugeschlagen würden. Damit werde der Gazastreifen kleiner und isolierter.

Ob die Kriegsziele Israels – die Hamas zu zerstören und die Geiseln heimzuholen – so erreicht werden können: Mehr und mehr Israeli bezweifeln das. In den vergangenen Tagen haben sich Tausende in Petitionen für ein Ende des Kriegs ausgesprochen.

Echo der Zeit, 10.4.2025, 18 Uhr; sten

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