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Illegalität und Ausbeutung: Pflegende wandern ab und wollen mehr
Aus International vom 08.01.2022. Bild: SRF Sarah Nowotny
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Arbeitsmigrationsland Polen Alte allein zu Haus: Pflegende aus Osteuropa wehren sich

Immer mehr Frauen pflegen Senioren zu Hause. In Polen kommen sie aus der Ukraine und lassen ihre Alten allein zurück.

Barbara Rola (Name geändert) und ihre Mutter wohnen erst seit ein paar Monaten in einem schicken weissen Würfelhaus in der Nähe der polnischen Stadt Kattowitz. Die Fenster sind übergross, zwischen den Häusern wächst so viel Wiese, wie es neuen Schweizer Siedlungen selten gegönnt wird. Drei Zimmer, Fliesen und Chromstahl.

«Ja, die Wohnung ist hübsch», sagt Barbara Rola. Sie ist 69 Jahre alt. Im Bett ruht sich gerade ihre 90-jährige Mutter aus.

Barbara Rola in ihrer neuen Wohnung.
Legende: Barbara Rola in ihrer neuen Wohnung. SRF

In dieser Gegend wird Polen ständig reicher und westlicher. Diese Wohnung konnte Barbara Rola nur kaufen dank des Gelds ihrer Tochter Agnieszka, die in der Schweiz in privaten Haushalten alte Menschen pflegt.

Polen hat die meisten Ausländer

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Polens Wirtschaft wächst stark und schnell. Sie wächst sogar doppelt so stark wie die Wirtschaft in den Ländern Westeuropas. Der polnische Durchschnittslohn ist inzwischen höher als in Portugal. Jeder zweite polnische Arbeitgeber findet nicht genug Angestellte. Deshalb holt das Land viele Ausländerinnen und Ausländer rein. Genau gesagt vergibt kein Land der westlichen Welt so viele Arbeitsbewilligungen an Menschen, die für eine gewisse Zeit bleiben wollen, wie Polen. 700'000 sind es pro Jahr, damit hat Polen sogar die USA überholt. Die grösste Gruppe der Menschen, die in Polen arbeiten, sind Ukrainerinnen und Ukrainer. Immer öfter kommen die Eingewanderten in Polen aber auch aus ferneren Ländern wie Nepal, Indien oder Bangladesch.

20 Jahre lang hat Barbara Rola selbst alte Menschen zu Hause gepflegt, in Deutschland. Heute, mit 69 Jahren, kümmert sie sich in der eigenen Wohnung um die eigene Mutter. «Im Altersheim würde sie höchstens ein halbes Jahr überleben», sagt sie.

Altersheime sind verpönt

Es gibt zwar viele neue Altersheime in Polen. Aber sie sind teuer. Sie haben wenig gutes Personal. Und die Heime sind verpönt – erst recht in Zeiten der Pandemie, in denen die Leute zu Hause bleiben wollen. Viele hier glauben, Pflegen sei Privatsache. Und der Staat gibt nicht genug Geld aus für die Alten im Land, nicht genug zum Beispiel für das, was in der Schweiz die Spitex macht: zu Hause helfen. Polen hat es in 30 Jahren Demokratie nicht geschafft, den letzten Teil des Lebens in sinnvolle Politik zu giessen – die Menschen schauen selbst. «Reiche Leute», sagt Barbara Rola, «stellen Ukrainerinnen ein.» Vielleicht später auch sie, dank Tochter Agnieszkas Geld.

Reiche Leute stellen Ukrainerinnen ein. Vielleicht später wir.
Autor: Barbara Rola

Polen ist das Dazwischen. Es ist noch «Osten» – ohne Agnieszka Rolas Schweizer Lohn könnte ihre Mutter nur träumen von einer ukrainischen Pflegerin. Polen ist aber auch schon «Westen». Polen wird reicher, in Polen werden die Menschen älter, es kommen weniger Kinder zur Welt, als Alte sterben.

Ausländer machen die Arbeit, die die Einheimischen nicht mehr machen wollen. Meistens kommen sie aus dem Osten, der noch so aussieht, wie viele sich den Osten vorstellen. Oft kommen sie aus der Ukraine.

24 Stunden Arbeit für 600 Franken

Wir rufen bei einer Vermittlungsagentur an und tun so, als wollten wir einen Menschen aus dem Osten nach Polen bestellen. Für die kranke Grossmutter, Betreuung rund um die Uhr. Die Angestellte der Agentur sagt: «Viele Leute wollen Ukrainerinnen, Sie müssen einen Monat warten.» Der Preis? «600 Franken im Monat». Das ist weniger als der Mindestlohn in Polen. Zu wenig, um in Warschau zu leben.

In dieser Stadt, die an vielen Ecken glitzert vor Reichtum. Auch hier, wo jetzt Tatiana Stepanova auf einer Bank sitzt – eingerahmt von Türmen voller schicker Wohnungen. In einer von ihnen döst ihre «Babcia», eine alte Frau, die sie gerade gepflegt hat. Eine nette alte Frau.

Tatiana Stepanova
Legende: Zu Besuch bei Tatiana Stepanova in ihrer Heimat. SRF

«Sie hat Gott geschickt, das sagen die Leute heute manchmal zu mir», sagt Tatiana Stepanova. Streng genommen war es aber etwas Profaneres, was sie vertrieben hat aus ihrem ukrainischen Bergdorf: 100 Franken Monatslohn für sie als Leiterin des Kulturhauses, 150 Franken Rente für die Mutter, zu wenig Geld.

Schikanen und Belästigung

Vor fünf Jahren hat eine Freundin sie gebeten, ein paar Ferienwochen lang für sie alte Menschen zu pflegen, in Polen. Keine leichte Arbeit: Da war die Frau, bei der sie nicht aufstehen durfte ohne Erlaubnis, sich nicht setzen durfte. Terror den ganzen Tag, die ganze Nacht. Bis sie ging.

Da war der Mann, der ihr nachstellte. «Möchten Sie nicht mein Mädchen sein?», fragte er. «Sie machen wohl Witze», sagte Tatiana Stepanova. «Aber nein», war seine Antwort. Schrecklich sei das gewesen.

Das Wichtigste für mich ist, dass man mich wie einen Menschen behandelt.
Autor: Tatiana Stepanova

Dieses Mal ging sie jedoch nicht, zu gut war der Lohn, 700 Franken. Heute würde sie nicht bleiben. Heute, mit 52 Jahren, arbeitet Tatiana Stepanova nicht mehr rund um die Uhr. Sondern pflegt mehrere alte Menschen, immer nur ein paar Stunden lang. Und verdient etwas mehr als 700 Franken. Heute, sagt sie, könnten sich Ukrainerinnen in Polen ihre Kunden aussuchen. «Und für mich ist das Wichtigste, dass man mich behandelt wie einen Menschen.»

Die Schwarzarbeit kommt gelegen

Der polnische Staat allerdings behandelt Tatiana Stepanova und viele ihrer Landsleute wie Luft. Obwohl das Land zerbröckeln würde ohne sie. Genau weiss es niemand, aber es arbeiten sicher mehr als eine Million Ukrainerinnen und Ukrainer in Polen. Und zumindest die, die alte Leute pflegen, tun das fast alle illegal.

Das heisst: Sie dürfen zwar ins Land kommen, das macht ihnen die Politik leicht. Aber sie haben fast nie einen Arbeitsvertrag – und damit fast nie Rente, Krankenkasse, Arbeitslosenversicherung. Die Politik lässt die Eingewanderten aus der Ukraine gewähren, lässt die Vermittlungsagenturen in Ruhe. Kein Wunder: Die schwarze – oder graue – Arbeit kommt Polen gelegen. Dank ihr kann die Regierung zuwarten damit, mehr Ideen und Geld in die Pflege alter Menschen zu stecken.

Die Schwarzarbeit kommt auch Tatiana Stepanova gelegen. Sie rechnet vor, wie viel sie Krankenkasse, Rente, Versicherungen in Polen kosten würden – zu teuer. Der Preis aber ist die Angst aller Illegalen: Was, wenn sie einen Arzt braucht? Zur Polizei muss? Der Preis für die Arbeit in Polen ist auch das Heimweh. Über ein Jahr lang war Tatiana Stepanova nicht in der Ukraine. Jetzt aber fährt sie endlich wieder in die Heimat.

Kein Gas, keine Kanalisation

Heimat, für Tatiana Stepanova ist das Oriv. Es ist, als hätten uns die Schlaglöcher auf der Strasse ins ukrainische Dorf auch in der Zeit zurückgeschleudert. Aus dem pelzigen Grün der Hügel strahlt Blau, Gelb, Rot – als müssten die bemalten Holzhäuschen allein das Werk der Zivilisation verteidigen. Hier gibt es keine Gasleitung, keine Kanalisation, oft keinen Strom. Hier im Westen der Ukraine lebt Tatiana Stepanovas Familie. Sie selbst möchte zumindest den ganzen Winter hier bleiben.

Die Strasse ins ukrainische Dorf Oriv besteht fast nur aus Schlaglöchern.
Legende: Die Strasse ins ukrainische Dorf Oriv besteht fast nur aus Schlaglöchern. SRF

Ihre Mutter Kateryna Stepanova füllt Wasser aus dem Brunnen in einen Eimer und gibt der Ziege Suppe zum Schlecken. «Ich mache alles selbst, ich passe auf mich auf», sagt sie. Die anderen alten Leute im Dorf seien neidisch, dass sie die drei Kilometer zur Kirche mit ihren 75 Jahren immer noch zu Fuss schaffe. Drinnen im Holzhaus ist der Tisch zu klein für die vielen Schüsseln und Teller.

Die Familie Stepanova braucht den Garten zum Überleben.
Legende: Die Familie Stepanova braucht den Garten zum Überleben. SRF

Gepflücktes, Gegartes, Gebratenes, alles kommt aus dem eigenen Garten. Der Garten sei, sagt Mutter Kateryna, eine Lebensversicherung. «Um zu überleben, verkaufen wir Früchte auf dem Markt.» Diese paar Franken reichten aber nicht, deshalb müsse Tochter Tatiana in Polen arbeiten.

Niemand kümmert sich um die Alten

Tatiana bezahlt für Medikamente, Strom, schickt Kleider und Essen, das nicht vor dem Haus wächst. Jeden Abend ruft sie ihre Mutter an aus Warschau. Jeden Tag vermisst Mutter Kateryna Tochter Tatiana – beim Gedanken daran beginnt sie zu weinen.

In der Ukraine kümmern sich die Kinder um ihre alten Eltern. Ausser eben, sie sind im Ausland. Altersheime sind rar und teuer, Pflegerinnen, die ins Haus kommen, auch. Sogar die Busse, die zum Arzt ins nächste Städtchen fahren, kosten viel Geld, weil sie privat sind. Höchstens die Nachbarn kümmern sich. Kateryna Stepanova möchte gar nicht alt werden. Sie sagt: «Ich bete zu Gott, dass ich den Kindern nicht zur Last fallen werde.»

Die Familie Stepanova
Legende: Die Familie Stepanova SRF

In Polen, sagt Tochter Tatiana, hätten die Menschen nicht solche Existenzängste. Trotzdem würde sie gerne hier bleiben, wenn es bloss Arbeit gäbe. Wenn man bloss nicht fünfmal weniger verdienen würde als in Polen. Jeder fünfte Ukrainer, jede fünfte Ukrainerin lebt im Ausland. Die Ukraine ist eines der Länder, für die Überweisungen Ausgewanderter überlebenswichtig sind.

Kampf für ein besseres Leben

Tatiana Stepanova will nun dafür kämpfen, dass ihr Leben in Polen leichter wird. Sie ist dabei, als ukrainischen Pflegerinnen in Polen in Warschau die erste Gewerkschaft für ukrainisches Pflegepersonal gründen. Sie wollen legal in polnischen Haushalten arbeiten können, möchten Regeln für Lohn und Freizeit. Tatiana Stepanova hat Vorstellungen, wie das gelingen könnte: «Eine unserer Ideen ist, dass die polnische Regierung Familien Geld gibt, die zu Hause jemanden aus dem Ausland anstellen.» So wäre genug da für Krankenkasse, Rente, Arbeitslosenversicherung der Ukrainerinnen.

Eine unserer Ideen ist, dass die polnische Regierung Familien Geld gibt, die zu Hause jemanden aus dem Ausland anstellen.
Autor: Tatiana Stepanova

Die Bedingungen für Pflegerinnen zu Hause werden sicher nicht heute oder morgen besser. Aber übermorgen vielleicht – denn es sind immer mehr Menschen auf sie angewiesen.

International, 8.1.2020; 8 Uhr

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