Agnieszka Rola (Name geändert) sitzt halb unter der Erde. Durchs offene Fenster hört man Autos, sieht den Garten von unten. Ein Zimmer im Sous-Sol in einem Dorf bei Bern. Und ein gepackter Koffer: Morgen fährt Agnieszka Rola nach Hause, nach Polen.
Ein Jahr lang hat sie in diesem Haus gelebt mit einer alten Frau, für eine alte Frau. Sie hat eine Frau gepflegt, die das Haus nicht mehr verlassen kann. «Wir schuften wie die Tiere», sagt sie. «Eigentlich sollte ich 45 Stunden pro Woche arbeiten, aber ich habe nie frei, nie, nie.»
Aggressive Patientin
In der Nacht muss Agnieszka Rola der alten Frau manchmal zu Hilfe eilen. Und morgens um acht Uhr beginnt ihr Arbeitstag: Sie zieht die Frau an, bringt sie auf die Toilette, setzt sie in den Sessel, räumt auf, putzt, bügelt, kauft ein, leistet ihrer Patientin Gesellschaft, praktisch rund um die Uhr. Das sei auch deshalb anstrengend, weil die Frau sich oft aggressiv verhalte. Sie nenne sie eine «blöde Polin», habe sie sogar mit dem Waschlappen ins Gesicht geschlagen.
Meine Patientin nennt mich eine «blöde Polin».
Die 45-jährige Agnieszka Rola sagt, sie fühle sich wie eine Sklavin. Oft habe sie gehen wollen, aber da war die Pandemie, da war der Druck der Agentur, die sie vermittelt hatte. Jetzt sollten wir die Treppe hochsteigen, um die Patientin nach ihrer Geschichte zu fragen – aber die Frau will nicht mit uns reden.
Viel zu viele Überstunden
Dafür zeigt uns Agnieszka Rola ihren Vertrag. Netto verdient sie 1800 Franken. Arbeiten müsste sie dafür 45 Stunden pro Woche. Im Vertrag steht auch, dass sie darüber hinaus nicht arbeiten müsse. Das ist allerdings ein Witz: In einem Monat hat sie 58 Überstunden gemacht, im nächsten 48, im dritten 50. Die Agentur will nicht bezahlen für die Überstunden. Aber Agnieszka Rola schluckt das nicht, streitet mit der Agentur. «Ich kenne meine Rechte», sagt sie.
In der Schweiz arbeiten 10'000 bis 30'000 Pflegerinnen in privaten Haushalten. Die meisten kommen aus Osteuropa. Und es werden mehr: Wir werden älter, unsere Pflegeeinrichtungen teurer, Altersheime unheimlicher in Zeiten der Pandemie. Dutzende Agenturen vermitteln die Pflegerinnen. Wer eine bestellt, bezahlt die Agentur. Und die Agentur stellt dann die Frauen an. Frauen, die oft zu viel arbeiten. Und zu wenig verdienen – manchmal nur ein Drittel des Gelds, das die Agenturen bekommen. In privaten Schweizer Haushalten gilt das Arbeitsgesetz nicht – die Frauen unterschreiben Verträge, die sonst undenkbar wären, Verträge, in denen Präsenzzeit und «Gesellschaft leisten» nicht als Arbeit gelten.
Osteuropäerinnen gewinnen vor Gericht
Viele Osteuropäerinnen wehren sich nicht, weil sie ihre Rechte nicht kennen, Angst haben, nicht gut genug Deutsch können. Aber die Dinge ändern sich langsam. Bozena Domanska kommt auch aus Polen, auch sie pflegt in der Schweiz Alte zu Hause. Und sie ist Gewerkschafterin, beim Verband des Personals öffentlicher Dienste. Vor gut zehn Jahren klagte Bozena Domanska als Erste in der Schweiz wegen der vielen unbezahlten Überstunden, der fehlenden Freizeit – und bekam Recht. Heute sagt sie: «Es tut sich viel, ich höre auch von positiven Beispielen, von Frauen, die einen guten Lohn bekommen und geregelte Arbeitszeiten haben.» Inzwischen sind – unterstützt von ihrer Gewerkschaft – 15 Frauen vor Gericht gegangen. Und alle haben gewonnen.
Auch die Polin Agnieszka Rola gewinnt am Schluss: Die Agentur bezahlt sie doch noch für die Überstunden im Dorf bei Bern.