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Müllsammlerin wird neue Abgeordnete
Aus 10 vor 10 vom 22.06.2022.
abspielen. Laufzeit 4 Minuten 39 Sekunden.

Argentiniens neue Abgeordnete Eine Müllsammlerin bringt die Stimmen der Strasse in die Politik

Rund 40 Prozent der Argentinierinnen und Argentinier sind arm. Erstmals haben sie eine Stimme im Parlament: die Müllsammlerin Natalia Zaracho. Die Reportage berichtet über diese kleine Revolution und wie ärmere Menschen das Umweltbewusstsein in Argentinien vorantreiben.

Trommelwirbel, Konfetti, Partyschaum aus Dosen: Mehrere hundert Menschen sind gekommen, um Natalia Zaracho auf ihrem Weg ins Kongressgebäude zu begleiten.

«Ich schwöre auf die Müllsammler im Land!»

Eine Müllsammlerin als Parlamentarierin, es ist eine kleine Revolution in Argentinien. Die 32-Jährige steigt auf eine LKW-Ladefläche, die als Bühne dient: «Sie haben uns glauben gemacht, dass wir es nicht schaffen können, nicht qualifiziert genug sind», ruft Zaracho ins Mikrofon. «Die Politik darf nicht länger von Anzug- und Krawattenträgern gemacht werden. Ich werde die Interessen der Ärmsten verteidigen.»

Natalia Zaracho
Legende: Die 32-jährige Natalia Zaracho in ihrem Büro im Parlamentsgebäude. Statt schicke Anzughosen trägt die Abgeordnete die Kleidung der Müllsammler. SRF Karen Naundorf

Auf dem Fussmarsch zum Amtseid im Parlament bemüht sie sich zu lächeln, doch manchmal kommen die Rückenschmerzen durch. Zu schwer waren die Karren, die die heute 32-Jährige jahrelang durch die Strassen von Buenos Aires zog. Mit 13 Jahren musste Zaracho die Schule abbrechen, sammelte Wertstoffe. «Schwören Sie auf Gott und das Heimatland?», fragt der Parlamentspräsident. «Auf die Müllsammler und auf den Kampf der Armen in unserem Land, ja, ich schwöre», antwortet Zaracho.

Die Politik darf nicht länger von Anzug- und Krawattenträgern gemacht werden. Ich werde die Interessen der Ärmsten verteidigen.
Autor: Natalia Zaracho Parlamentarierin «Frente Patria Grande»

Für den Schwur im Kongress hat sie sich nicht umgezogen, sondern trägt ihre Arbeitskleidung. Die gleiche wie Zehntausende von Müllsammlerinnen und Müllsammler auf Argentiniens Strassen: lila Shirt, lila Hose, beide mit Reflektor-Sicherheitsstreifen.

Mehr Umweltschutz – und eine grosse Prise Hoffnung

Wie viele Länder in Südamerika hat auch Argentinien eine geringe Recyclingquote von nur sechs Prozent. Dass überhaupt so viel wiederverwertet wird, ist zu einem grossen Anteil den Müllsammlerinnen und Müllsammler zu verdanken. Nach der Staatspleite 2001 begannen immer mehr Menschen, im Müll nach Verwertbarem zu suchen. Zunächst wehrten sich Müllunternehmer dagegen: Die Kartonsammler, die «cartoneros», würden ihren Müll stehlen. Doch die gesellschaftliche Realität und hartnäckige Proteste der Müllsammler-Community sorgten dafür, dass die Widerstände zumindest teilweise fielen.

Müllsammler in Argentinien unterwegs.
Legende: Müllsammler unterwegs: Anwohner werfen alle Wertstoffe durcheinander in den grünen Recycling-Container. Die «recicladores» sortieren per Hand und nehmen alles raus, was wiederverwendbar ist. SRF Karen Naundorf

Längst nennen sie sich «recicladores», haben sich in einem Zusammenschluss organisiert. 150'000 gibt es im ganzen Land, rund 20'000 arbeiten inzwischen in Kooperativen, die zum Teil mit den lokalen Verwaltungen zuarbeiten.

Heute sage ich stolz: Ich leiste einen Dienst für die Gesellschaft und die Umwelt.
Autor: Natalia Zaracho Parlamentarierin «Frente Patria Grande»

«Früher habe ich mich geschämt, im Müll anderer nach Verwertbarem zu suchen», sagt Natalia Zaracho. «Heute sage ich stolz: Ich bin eine Arbeiterin, ich leiste einen Dienst für die Gesellschaft, für die Umwelt.»

Interview: «Für uns sind Armutsziffern keine blossen Zahlen»

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SRF News: Wie geht es Ihnen in Ihrer neuen Rolle als Abgeordnete?
Natalia Zaracho: Am Anfang habe ich mich im Kongress nicht wohlgefühlt. Und mich gefragt: Was kann ich beitragen? Heute weiss ich es: Lebenserfahrung, Realitätserfahrung. Für uns sind die Armutsziffern keine blossen Zahlen. Wir wissen, was sie bedeuten. Die immer steigenden Preise in Argentinien, das ist untragbar. Wir müssen die Gesellschaft umgestalten, gerade in einem ungleichen Land wie Argentinien. Ich bin davon überzeugt, dass wir ein bedingungsloses Grundeinkommen brauchen.

Sie sind schon lange politisch aktiv. Worauf sind Sie besonders stolz?
Umweltschutz, das war für mich lange etwas für Leute aus der Mittelklasse, die Wale oder Wälder retten wollten. Aber dann wurde mir klar: Ausgerechnet wir treiben den Umweltschutz voran. Wir, die aus der Not heraus angefangen haben, Müll zu sammeln. Wir haben es geschafft, die Agenda zu verändern. Recycling, soziale Inklusion durch Arbeitsplätze in Kooperativen, nun haben wir ein Gesetz zur Vermeidung von Einweg-Plastik vorgelegt.

Das heisst nicht, dass alles gut ist: Das Gesetz ist noch nicht durch und es gibt Widerstand dagegen. Auch fehlt es an weiterer sozialer Inklusion. Viele compañeros arbeiten noch immer in Müllhalden, ohne Sanitäranlagen, ohne ein Dach über dem Kopf zu haben. Wir haben eine Armutsrate von rund 40 Prozent in Argentinien und eine hohe Inflation, unter der insbesondere die Armen leiden, für die selbst das Brot zu teuer ist. Aber wir haben es geschafft, von unten Themen anzustossen, die inzwischen landesweit von Bedeutung sind.


Was schlagen Sie vor?
Alle reden über die Auslandsschuld, der internationale Währungsfonds kontrolliert alle drei Monate, wie es uns damit ergeht. Ich schlage vor: Lasst uns über die Inlandsschulden sprechen und auch da alle drei Monate ein Resümee ziehen. Wie viele Menschen leben unterhalb der Armutsgrenze? Können wir durch ein bedingungsloses Grundeinkommen dafür sorgen, dass sie genug zu essen haben? Wie schaffen wir es, die Armenviertel zu urbanisieren?

Wir müssen auch nachforschen, was mit all dem Geld passiert ist, das der Internationale Währungsfonds Argentinien ausgezahlt hat. Denn am Ende zahlt diese Schulden nicht eine Regierung, sondern wir alle. Etwa, wenn Schulen fehlen oder das öffentliche Gesundheitssystem unterfinanziert ist.

Das Gespräch führte Karen Naundorf.

Die Müllsammler gehen meist zu zweit los, so wie Rafa Candia und Roberto Medina: Einer hält den Deckel der grünen Recycling-Container auf, der andere steigt rein. Dann klauben sie alles Wiederverwertbare aus den grossen, grünen Containern, in die die Anwohner alles gemischt werfen: Glas, Karton, Plastik.

Die beiden Müllsammler Robert Medina und Rafa Candia
Legende: Links Roberto Medina, rechts im Bild Rafa Candia. Sie sammeln Wertstoffe für die Kooperative Madreselva – Candia plädiert für Gesetze, welche die Mülltrennung verbessern sollen. SRF Karen Naundorf

«Wir sind stolz, endlich eine Vertreterin im Parlament zu haben», sagt Rafa Candia, der schon seit bald zwanzig Jahren nach Wertstoffen sucht.

Seine Erwartungen an Natalia Zaracho sind gross: «Ältere Müllsammler brauchen Unterstützung, wir einen besseren Lohn, dafür braucht es Gesetze. Auch dafür, damit die Leute den Müll besser trennen und überhaupt mehr recyceln.»

Candia und Medina arbeiten für die Kooperative Madreselva, eine von zwölf von den Müllsammlern selbst organisierten Unternehmungen, die sich um die Mülltrennung in der argentinischen Hauptstadt kümmern.

Die Kooperative Madreselva
Legende: In der Kooperative Madreselva werden die Werkstoffe sortiert – die Arbeitenden verdienen einen mageren Lohn. Dennoch: Sie stehen besser da als viele andere ohne Job. SRF Karen Naundorf

20'000 Pesos ist der Grundlohn für einen Müllsammler, umgerechnet 171 Franken. Dazu kommen 15 Pesos, 13 Rappen, pro Kilo gesammelte Wertstoffe. Es ist ein harter Job, der kaum genug zum Überleben bringt. «Und wir sind die, die Glück haben», sagt Rafa Candia. «Andere beneiden uns um den Platz in der Kooperative.»

Zwei Mitarbeiterinnen der Kooperative Madreselva
Legende: Die meisten, die in der Kooperativen arbeiten, sammelten zuvor jahrelang Müll ohne Einkommen. Egal mit wem man hier spricht: Alle hoffen, dass die Recyclingquote steigt und die Kooperativen mehr Mitglieder aufnehmen können. SRF Karen Naundorf

Die Kooperativen-Mitglieder organisieren auch Vorträge an Schulen und auf öffentlichen Plätzen. Dort erklären sie, wie Mülltrennung funktioniert oder wie aus Küchenabfällen Humus wird.

Kooperativ-Mitglieder stehen an einem Stand.
Legende: Müllsammlerinnen und -sammler erteilen der Mittelklasse eine Lektion in Umweltschutz: Kooperativ-Mitglieder erklären, wie aus Essensabfällen Humus wird. SRF Karen Naundorf

Es ist ein einzigartiger Erfolg der «recicladores»: Bewohner von Armenvierteln, oft stigmatisiert, geben den Bewohnern in Mittelklasse-Vierteln eine Lektion in Umweltbewusstsein.

Rafa Candia und Frau Sandra beim Mittagessen mit den Kinder.
Legende: Rafia Candia und seine Frau Sandra beim Mittagessen mit den Kindern. Dass eine Müllsammlerin im Parlament sitzt, weckt in den beiden Eltern viel Hoffnung – vor allem, was die Zukunft ihrer Kinder anbelangt. SRF Karen Naundorf

Seit eine Müllsammlerin im Parlament sitzt, ermutigen Rafa Candia und seine Frau Sandra ihre Kinder zu träumen: «Wir wünschen uns, dass sie weit kommen, wie Naty. Sie hat neue Wege eröffnet. Das gilt für alle Kinder von Müllsammlern. Man sieht nun, wie weit eine Müllsammlerin es schaffen kann.»

 

10vor10, 22.6.22; 21:50 Uhr

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