Der Streit um den Asylkompromiss von CDU und CSU ist noch nicht ausgestanden. Die SPD behält sich eine Zustimmung noch vor und will in einem weiteren Koalitionsausschuss über offene Fragen beraten. Stephan-Andreas Casdorff vom «Tagespiegel» findet es richtig und wichtig, dass die SPD die Regierungskoalition jetzt nicht auseinanderfallen lässt.
SRF News: Die SPD hat sich noch nicht hinter den Asylkompromiss gestellt. Allerdings ist von «leichtem Optimismus» die Rede. Ist eine Zustimmung wahrscheinlich?
Stephan-Andreas Casdorff: Nachdem der Generalsekretär Lars Klingbeil gesagt hat, es gebe Diskussionsbedarf, aber keine roten Linien, sehe ich voraus, dass die SPD schon sehr genau weiss, dass sie hier besser zustimmt als ablehnt.
Eine rote Linie war bisher die Errichtung von Asylzentren an der Grenze. Der Kompromiss von CDU und CSU sieht dies nun vor. Einige SPD-Politiker kritisieren das scharf. Kann die SPD die Idee trotzdem schlucken?
Ob sie das kann, ist zunächst einmal eine Frage des Wordings. Statt Asyl- oder Transitzentren nennt man sie vielleicht Aufnahmeplattformen. Das wäre ein euphemistischer Begriff, mit dem jeder zufrieden sein kann. Der wichtigste Punkt aber ist, dass es keine Haftlager sein dürfen. Alleine schon die Vorstellung, dass Deutschland so etwas Ähnliches wie Camps einrichtet, muss vermieden werden. Wir wissen ja, wovon die Rede ist, und welche Assoziation das sofort hervorruft, wenn die Menschen die Lager nicht verlassen dürfen. Das muss unter allen Umständen vermieden werden.
Es muss in den Zentren human und humanitär zugehen. Dann wird die SPD zustimmen können. Aber nicht nur wegen des Wordings, sondern auch weil ihre Wähler Ordnung und Steuerung in der Flüchtlingsfrage wünschen. Das hat sich bei den letzten Wahlen gezeigt.
Die SPD-Basis ist in der Migrationspolitik eher auf der Seite von CSU-Innenminister Horst Seehofer. Sieht die SPD-Spitze diesen Kompromiss auch als Möglichkeit, die SPD nach rechts zu rücken?
Ich würde nicht sagen, dass es eine Frage dessen ist, ob man nach rechts rückt. Denn was am 4. September 2015 geschah, war immer richtig. Es war immer richtig, humanitär zu handeln, und die Menschen, die in Not sind und waren, aufzunehmen. Danach ist jedoch nie deutlich geworden, dass es sich um eine Ausnahme handelte und ein Handeln der Regierung folgen muss.
Es muss in den Zentren human und humanitär zugehen. Nur dann wird die SPD zustimmen können.
Es gab danach keine Diskussion darüber, wie die Migration – vor allem im europäischen Rahmen – geregelt werden muss. Die europäische Beteiligung fehlte. Deswegen geht es in diesem Fall nicht um ein Rücken nach rechts, sondern um Recht und Ordnung. Man darf nicht unterschätzen, dass die Sozialdemokraten bei allem, was sie politisch tun, die Sicherheit voranstellen; im Sozialen sowie im Inneren. Das heisst, die Menschen, die hart für das, was sie haben, gearbeitet haben, möchten sicher sein, dass sie das nicht verlieren.
Zum Streit zwischen Bundeskanzlerin Angela Merkel und Horst Seehofer: Sie haben in einem Kommentar geschrieben, eine spätere Scheidung sei nicht ausgeschlossen. Dann ist der Konflikt also nur notdürftig gekittet?
Ja, das glaube ich. Die Verletzungen sind tief. Es sei da noch einiges aufzuarbeiten, sagte die CDU-Generalsekretärin. Es ist wie eine Paarbeziehung: Verletzungen heilen, doch Kränkungen heilen nie. Vor allem bei Seehofer liegen tiefe Kränkungen vor. Er hat aber auch der Kanzlerin eine Kränkung zugefügt. Er hat sie zu demütigen versucht. Denn er will unbedingt, dass sie ihre humanitäre Flüchtlingspolitik, an der sie bisher festhielt, ändert.
Es ist wie eine Paarbeziehung: Verletzungen heilen, doch Kränkungen heilen nie.
Umgekehrt hat Merkel Seehofer schon 2004 und 2005, als sie noch gemeinsam in der Opposition sassen, einige Male an den Rand dessen geführt, was er politisch aushalten kann. Das heisst, sie haben eine lange Geschichte miteinander und vieles nicht aufgearbeitet. Deswegen gehe ich davon aus, dass es das letzte Mal war, dass man mit einem Formelkompromiss aus einer solchen Lage heraus gekommen ist.
Die Unionsparteien haben ernsthaft darüber nachgedacht, sich zu trennen.
Das hat es in Deutschland in 70 Jahren so noch nicht gegeben, dass die Unionsparteien gemeinsam in den Abgrund schauen und sagen: Morgen sind wir einen Schritt weiter. Das ist eine sehr ungewöhnliche Situation. Dieses Mal ist es nicht so, dass einer aufbegehren wollte und man damit gespielt hätte, sich zu trennen. Sondern sie haben ernsthaft darüber nachgedacht, sich zu trennen. Was das für die Parteienlandschaft in Deutschland bedeutet, ist kaum zu überreissen.
Es ist also ein sehr brüchiger Frieden, den man geschlossen hat. Ist die Regierung angeschlagen nach diesem Kompromiss?
Ja. Sie steht auf sehr wackeligem Fundament. Es hängt nun alles davon ab, ob Angela Merkel und Horst Seehofer im Bundeskabinett, in dem sie gemeinsam sitzen, auch gemeinsam handeln wollen. Das ist aus meiner Sicht fraglich.
Sie werden das eine gewisse Zeit hinbekommen. Aber ihre Charaktere ändern sich ja nicht mehr. Auf der einen Seite ist Merkel, die auf manche Weise durchaus rechthaberisch ist. Und auf der anderen Seehofer, der manchmal sehr eruptiv ist und hin und her schwankt. Er hat die Bundeskanzlerin und die CDU nach rechts zu verorten versucht, weiter hin zum Konservativen.
Erstaunlicherweise hat die Sozialdemokratie es diesmal verstanden, sich nicht zu streiten.
Das wird ein Grundsatzkonflikt bleiben. Denn dazwischen stehen Menschen wie der CSU-Generalsekretär Markus Blume und die CDU-Generalsekretärin Annegret Kramp-Karrenbauer, die andere politische Akzente setzen. Es geht nicht allein um persönliche Befindlichkeiten, sondern auch um politische Standorte. Und diese zusammenzuhalten war früher einfacher als heute.
Gibt es in dieser Situation überhaupt noch Gewinner?
Erstaunlicherweise hat die Sozialdemokratie es diesmal verstanden, anders als in den zurückliegenden Jahren, sich nicht zu streiten. Die SPD hat sich im Gegenteil bemüht, als Mittler, und nicht als Störenfried aufzutreten. Sie hat ein eigenes Konzept vorgelegt. Das will ich jetzt nicht bewerten, aber immerhin hat sie sachlich geantwortet. Das kann ihr – nicht heute, nicht morgen – aber sicherlich zum Besseren gereichen. Die stolze, 155 Jahre alte SPD, für die damals unter Willy Brandt 40 Prozent ein «schönes Ergebnis» waren, steht heute bei 17 Prozent. Das zeigt, dass die Partei durchaus noch ein bisschen gesunden kann und muss. Und das geht über Sacharbeit, über Zusammenhalt und Solidarität – die eigentlichen Kernbegriffe der Sozialdemokratie.
Das Gespräch führte Marc Allemann.