Erst im Mai hat die EU ihr Asylgesetz verschärft und einen gemeinsamen Asyl- und Migrationspakt beschlossen. Dass nach Ungarn mittlerweile auch die Niederlande diese Asylregeln als zu wenig scharf ablehnen, hatten die Länder schon vor geraumer Zeit angekündigt. Wobei es in Ungarn schon längst praktisch unmöglich ist, einen Asylantrag zu stellen, was gegen sämtliche unionsrechtliche Bestimmungen verstösst.
Es ist ein Wettbewerb nach unten auf europäischer Ebene, der tragbare und nachhaltige Lösungen verunmöglicht.
Dass noch weitere Länder aus der angestrebten europäischen Lösung ausscheren, sei leider zu befürchten, schätzt Judith Kohlenberger, Migrationsforscherin an der Universität Wien. Sie umschreibt die Entwicklung als «Wettbewerb nach unten auf europäischer Ebene», der tragbare und nachhaltige Lösungen verunmögliche.
Auf die Reform des gemeinsamen europäischen Asylsystems hatten sich alle 27 Mitgliedstaaten vor wenigen Monaten geeinigt, auch unter Druck auf der zu Ende gehenden Legislatur. Zur Umsetzung der hochkomplexen Reform räumte man ganze zwei Jahre bis 2026 ein.
«Mit dem Ausscheren von Ländern wenige Monate nach Verabschiedung im Parlament ist zu befürchten, dass es dazu gar nicht mehr kommen wird», sagt Kohlenberger. Solche Signale seien fatal und zeigten, dass ein Interesse an gemeinsamen Lösungen gar nicht bestehe. Vor allem nicht, was die Verteilung der Belastung auf die einzelnen Länder innerhalb der Union betreffe.
Das neue EU-Asylgesetz basiert auf einem System der Solidarität unter den Mitgliedstaaten. Mit der Verpflichtung, Länder mit hoher Migration zu entlasten. Ob das in der EU überhaupt noch durchsetzbar ist, werde sich in den kommenden Jahren zeigen, so Kohlenberger. Die Mammutaufgabe obliegt dem neuen EU-Kommissar für Migration, dem Österreicher Magnus Brunner.
«Flexible Solidarität» aus Ausweg?
Das Solidaritätsprinzip als einer von vielen Bausteinen der Reform dürfte laut Kohlenberger am schwierigsten umzusetzen sein. Gewisse Länder hatten sich bewusst der Stimme enthalten, Viktor Orban verliess bei der Abstimmung im Parlament den Saal. «Das ändert auf die Länge aber nichts daran, dass sich alle Länder beteiligen müssen, wenn es eine gemeinsam geteilte Solidarität sein soll», unterstreicht die Forscherin.
Allerdings gibt es unter dem Stichwort «flexible Solidarität» ein ganzes Bündel von Massnahmen, wie man trotzdem solidarisch sein kann. So müssen Mitgliedstaaten nicht unbedingt Geflüchtete auf dem eigenen Territorium aufnehmen. Sie können sich auch finanziell an der Unterbringung von Flüchtlingen in anderen Ländern beteiligen, ebenso operativ an der Rückführung von Geflüchteten.
Dennoch haben gewisse Länder angekündigt, dass sie gar nicht teilnehmen wollen, darunter Polen und Ungarn. Dies könnte zum Kipppunkt werden. Denn warum sollten einzelne Mitgliedstaaten einen Grossteil des Migrationsdrucks schultern, während sich andere der Verantwortung entziehen, bemerkt Kohlenberger.