Es sind bald zwei Millionen Menschen aus der Ukraine, die inzwischen in Polen angekommen sind. Damit ist Polen dasjenige Land, in das bisher am meisten Ukrainerinnen und Ukrainer geflohen sind. Alleine in der Hauptstadt Warschau, in der 1,9 Millionen Menschen leben, kamen in den letzten Wochen 300'000 Geflüchtete an. SRF-Osteuropa-Korrespondent Roman Fillinger war am Donnerstag in Warschau unterwegs und hat unter anderem ein Aufnahmezentrum besucht.
SRF News: Wie erleben Sie die Situation in der Hauptstadt?
Roman Fillinger: Einerseits schien mir diese Stadt ganz normal. Andererseits war die Situation sehr dramatisch. Es kommt sehr darauf an, in diesen Tagen in Warschau, wo man genau hinschaut – wo man hingeht. Auf den ersten Blick kaufen die Leute ein, sie gehen arbeiten, wie immer, gehen essen, wie immer. Aber wenn man dann gewisse Orte besucht, zum Beispiel den Hauptbahnhof von Warschau, dann ist es definitiv vorbei mit Normalität.
Ich habe vor allem viele irrsinnig müde, traurige Menschen gesehen.
An diesem Bahnhof kommen sehr viele Ukrainerinnen und Ukrainer an, was ist Ihnen da aufgefallen?
Ich habe vor allem viele irrsinnig müde, traurige Menschen gesehen. Diese Bahnhofshalle hat eine Galerie und dort versuchten Leute, auf Matratzen am Boden zu schlafen, eingerahmt von Koffern, von Plastiksäcken und auch von tragbaren Katzenkäfigen. Im Erdgeschoss dieses Bahnhofs, da ist die Lage etwas anders. Dort geben Freiwillige an improvisierten Ständen Auskunft zu Möglichkeiten der Unterkunft oder zu Möglichkeiten der Weiterreise. Es gibt ein grosses Zelt, in dem gratis Essen verteilt wird. Und trotz all dieser Aktivität, trotz der vielen Menschen, die es da gibt, ist es erstaunlich ruhig. Mein Eindruck war, dass viele dieser geflüchteten Menschen – fast nur Frauen, Kinder oder alte Leute – schlicht zu erschöpft sind, um mehr zu tun als das, was unbedingt nötig ist in diesem Moment.
Warschaus Stadtpräsident hat bereits um internationale Hilfe gebeten. Wie kann Warschau – und ganz Polen – mit dieser grossen Zahl an geflüchteten Menschen umgehen?
Wie das längerfristig gehen soll, das weiss derzeit wohl niemand. In Polen sind derzeit alle, und zwar unabhängig von der politischen Couleur, stolz auf die Hilfsbereitschaft, welche die polnische Bevölkerung an den Tag legt. Aber ich habe auch mit dem Woiwoden – das ist der höchste Vertreter der Zentralregierung in dieser Region – gesprochen und er meinte, ohne Hilfe von aussen, ohne mehr Hilfe von anderen europäischen Ländern, werde es längerfristig nicht gehen.
In Polen sind derzeit alle stolz auf die Hilfsbereitschaft, welche die polnische Bevölkerung an den Tag legt.
Um solche Hilfe zu bitten, ist aber für die polnische Regierung politisch nicht ganz einfach. Sie hat sich ja bei der Flüchtlingskrise 2015, als die Flüchtlinge vor allem im Süden Europas ankamen, sehr gegen eine kollektive Verantwortung für geflüchtete Menschen gewehrt. Sie hat zum Beispiel einen europäischen Verteilschlüssel kategorisch abgelehnt. Diese Position will man jetzt nicht einfach aufgeben. Aber man hofft natürlich auf mehr Geld aus dem Rest Europas.
Das Gespräch führte Sandra Witmer.