Deutschland weitet die Kontrollen an den Grenzen massiv aus. Damit senkt ein grosses Land inmitten der EU wieder die Schlagbäume. Was das für die Schweiz und für die EU bedeutet, erklärt Migrationsexpertin Victoria Rietig.
SRF News: Was ändert sich mit dem heutigen Tag konkret an den Grenzen Deutschlands?
Victoria Rietig: Ab heute gibt es nicht mehr nur gegen Süden und Osten (Schweiz, Österreich, Polen und Tschechien) stationäre Grenzkontrollen, sondern auch nach Westen und Norden (Dänemark, Benelux-Staaten und Frankreich). Das heisst, die rechtliche Situation ändert sich erstmal nicht, die Grenzkontrollen werden auf mehr Strecken ausgeweitet, aber nicht auf mehr Gruppen von Ankommenden.
Es können mehr Menschen nach Österreich als in die Schweiz zurückgewiesen werden.
Wer wird an den Grenzen zurückgewiesen?
Menschen, die keine gültigen Dokumente haben, also keinen Pass oder kein gültiges Visum und die kein Asyl beantragen wollen. Diese Gruppe von Menschen kann Deutschland zurückweisen – Stand heute. Beantragen sie aber Asyl, auch ohne gültige Papiere, dürfen sie einreisen.
Was passiert mit den Personen, die zurückgewiesen werden?
Sie gehen wieder in das Land zurück, aus dem sie einzureisen versuchten. Entscheidend ist die Umsetzungspraxis. Ein Beispiel: Wir wissen, dass drei von fünf Leuten, die die deutsche Bundespolizei an der Grenze zur Schweiz festsetzt, ein Asylgesuch vorbringen. Sie können also nicht in die Schweiz zurückgewiesen werden.
Grenzkontrollen können irreguläre Migration kurzfristig eindämmen. Langfristig und mittelfristig steigen die Zahlen wieder an.
An der Grenze zu Österreich hingegen ist es weniger als eine von fünf Personen, die in Deutschland Asyl beantragt. Es können also verhältnismässig mehr Menschen nach Österreich als in die Schweiz zurückgewiesen werden. Woran liegt das? Die Personen kommen über ähnliche Strecken, aus ähnlichen Ländern. Noch haben wir keine Antwort auf diese Frage. Aber es zeigt: Die Umsetzungspraxis hat einen grossen Einfluss auf den Effekt, den Grenzkontrollen haben.
Sind Grenzkontrollen dazu geeignet, die irreguläre Migration einzudämmen?
Grenzkontrollen können irreguläre Migration kurzfristig eindämmen. Langfristig und mittelfristig steigen die Zahlen normalerweise wieder an. Grenzkontrollen sind also ein legitimer Teil von einem Gesamtpaket der Migrationspolitik. Wenn man sich primär auf diese Kontrollen verlässt, kann man der irregulären Migration aber nicht Herr werden kann.
Warum nicht?
Weil man eine Doppelstrategie braucht. Wenn Sie sich den Werkzeugkasten der Migrationspolitik vorstellen, dann haben Sie einerseits Härte, Abschreckung, teilweise Symbolpolitik. Das ist alles legitim und gehört dazu. Aber wenn Sie irreguläre Migration langfristig reduzieren wollen, müssen Sie diese Instrumente mit anderen kombinieren. Es braucht Migrationsabkommen mit Ländern, die an den Routen liegen, und es braucht legale Fluchtwege in sichere Länder.
Wenn Deutschland die Praxis ändert und auch die Leute an der Grenze zurückweist, die ein Asylgesuch stellen, so wie es die Union (CDU/CSU) fordert, würde sich die Situation für die Nachbarländer verändern.
Können diese Grenzkontrollen, die nun Deutschland einführt, eine Kettenreaktion auslösen?
Wenn Deutschland die Praxis ändert und auch die Leute an der Grenze zurückweist, die ein Asylgesuch stellen, so wie es die Union (CDU/CSU) fordert, würde sich die Situation für die Nachbarländer verändern. Der Anreiz für die Schweiz würde steigen, die Grenzen zu Italien oder Österreich auch verstärkt kontrollieren zu wollen. Ob diese Forderung der Union doch noch aufgenommen wird oder als Testballon ausprobiert wird, wissen wir derzeit nicht.
Das Interview führte Simone Hulliger.