Seit Wochen tingeln Präsident Macron und seine Minister durchs Land. In Vororten, winzigen Dörfern, kleinen Städten hören sie sich die Sorgen und Nöte der Franzosen an. Macron erklärt, beschwichtigt, notiert. Der Wunschzettel der Nation wird dabei lang und länger. Die Gelegenheit ist auch einmalig. Denn mitreden kann das Volk in Frankreich nicht. Ein Referendum, eine direkte Volksbefragung durchzuführen, liegt allein in der Macht des Staatspräsidenten.
«Es dient der Regierung lediglich als Umfrage», winkt der Historiker François Garçon ein. Egal wie das Volk entscheide, es habe keine Auswirkung auf die Autorität der Regierung. «Warum sollten Präsidenten sich auch anhören, was das Volk zu sagen hat? Das Volk hat ihnen bei der Wahl schliesslich die Verantwortung für fünf Jahre übergeben.» Unerhört also, dass nun plötzlich die Idee eines Referendums im Raum steht.
Zehn Referenden in 60 Jahren
Charles de Gaulle hatte die seit 1793 in der Verfassung verankerte aber ungebräuchliche Volksabstimmung wiederbelebt. Ein Instrument, das sparsam eingesetzt wurde. In den letzten 60 Jahren gab es lediglich zehn nationale Referenden. Das letzte fand 2005 zur europäischen Verfassung statt. Mit 55 Prozent deutlich abgelehnt, umgingen Regierung und Parlament den Volkswillen nur drei Jahre später.
Seither sitzt das gegenseitige Misstrauen tief. «In der Vorstellung der französischen Politiker ist es undenkbar, dass gute Lösungen von den Bürgern kommen könnten, die sie als ungebildet und unreif ansehen», betont Garçon. «Es gibt absolut keine Durchlässigkeit von unten nach oben, zu jener Politiker-Elite, die überzeugt ist, die Wahrheit für sich gepachtet zu haben.»
Gelbwesten preisen Schweizer Modell
Während Macron als Quintessenz der grossen Debatte mit einem Referendum liebäugelt, fordern die rebellierenden «Gilets Jaunes» mehr. Ihnen schwebt ein «référendum d’initiative citoyenne» (RIC) vor, ein Initiativrecht à la Suisse. «Das war wohl eine gehörige Überraschung fürs Elysée», lacht François Garçon, der an der Universität Genf studierte und ein ausgewiesener Kenner des Schweizer Systems ist.
«Dass ungebildete, ahnungslose Demonstranten an einem Verkehrskreisel Schweizer Initiativrechte aus dem Hut zaubern, damit hatte die Elite nicht gerechnet!» Der Historiker erachtet das Schweizer Modell allerdings als Antithese zur französischen Funktionsweise. In Frankreich habe der Präsident während seiner Amtszeit sozusagen eine Blankovollmacht.
Wäre Frankreich bereit fürs Schweizer System
Auch die Verfassungsrechtlerin Lauréline Fontaine zweifelt daran, dass Frankreich zu einem Systemwechsel bereit wäre. «Seit der Revolution setzt Frankreich auf eine repräsentative Demokratie.» Als bei der Verfassungsreform 2008 das geteilte Referendumsrecht diskutiert wurde gab es allergrösste Vorbehalte.
«Die Schweizer haben dank Abstimmungen und Volksinitiativen grosses Vertrauen in ihre Regierung. Die Frage ist, ob ein solches Instrument den gleichen Zusammenhalt wie bei Euch fördern würde, einen Glauben an die Tugenden der französischen Regierungsform.»
Noch ist unklar, ob überhaupt und worüber Präsident Macron eine Volksabstimmung abhalten wird. Als möglicher Termin wurde der 26. Mai genannt, an dem die Europaratswahlen stattfinden. Einer aktuellen Umfrage der Zeitung «Le Figaro» zufolge, halten dies 55 Prozent der Franzosen für eine gute Idee.