Erst Grossbritannien, dann andere europäische Staaten, die USA, Kanada und gestern schliesslich auch die Nato: Nach dem Giftanschlag auf den russischen Ex-Agenten Sergej Skripal setzen sie ein Zeichen gegen Russland, das laut der britischen Regierung für den Anschlag verantwortlich sein soll. In einer koordinierten Aktion haben sie rund 150 russische Diplomaten ausgewiesen.
Der Kreml, der jede Verantwortung von sich weist, hat zwar noch nicht reagiert. Aussenminister Sergej Lawrow kündigte gestern aber an: «Wir werden antworten.» Dass Russland genauso viele ausländische Diplomaten ausweisen wird, ist zu erwarten.
Die gegenseitige Ausweisung von Diplomaten zwischen dem Westen und Russland ist ein Ritual aus dem Kalten Krieg. Eine Eskalation diesen Ausmasses hat es bisher allerdings nur einmal gegeben, und zwar 1986, ausgerechnet zu Beginn der Perestroika.
Der «Agentenkrieg» von 1986
Die beiden Supermächte USA und Sowjetunion hatten gerade die ersten Annäherungsversuche seit 1947 hinter sich, als die spektakuläre Verhaftung eines sowjetischen UNO-Mitarbeiters in den USA wegen angeblicher Spionageversuche eine diplomatische Krise auslöste.
Die Sowjets reagierten, indem sie ihrerseits einen amerikanischen Journalisten verhafteten – auch wegen angeblicher Spionage. Die Amerikaner antworteten mit der Ausweisung 25 russischer Diplomaten, worauf der Kreml seinerseits fünf amerikanische Diplomaten des Landes verwies. Daraufhin stellten die USA 55 weitere sowjetische Vertreter kalt. Die Krise eskalierte vollends, als Moskau 260 Mitarbeiter aus der US-Botschaft in Moskau des Landes verwies.
«Das war der grösste Fall einer solchen Massenausweisung», sagt Osteuropa-Experte Jeronim Perovic von der Universität Zürich. Die damalige Situation ist seiner Meinung nach zwar nicht ganz mit der aktuellen Lage zu vergleichen.
Die UdSSR war potent und stabil
Im Kalten Krieg habe es zwei Blöcke gegeben, deren Demarkationslinien zumindest in Europa klar abgesteckt gewesen seien. «Jeder wusste, zu welchem Block er gehört: Entweder Nato-Westen oder Warschauer Pakt und Sowjetunion.» Direkte Konfrontationen gab es keine, aber es wurden Stellvertreterkriege in Afrika und Asien geführt.
Trotzdem schien Russland stabil – im Gegensatz zu heute, wie Perovic sagt. Obwohl es keinen ideologischen Krieg gegen den Westen mehr führe, sei das Land heute instabiler, «denn die Demarkationslinien zwischen dem Westen und Russland sind nicht klar abgesteckt – gerade was die post-sowjetischen Staaten dazwischen angeht».
Die Entspannung zwischen Russland und den USA kam in einer Zeit, in der die Beziehungen hoch angespannt waren.
Dennoch sieht Perovic auch Parallelen zwischen heute und 1986. «Die Entspannung zwischen Russland und den USA kam in einer Zeit, in der die Beziehungen hoch angespannt waren.» Der damalige US-Präsident Ronald Reagan und der sowjetische Staatschef Michail Gorbatschow hatten sich einerseits angenähert, andererseits kam es aufgrund sehr schlechter Beziehungen zu dieser diplomatischen Krise.
«Wir werden euch tot-rüsten»: Mit dieser Drohung an Russland hatte Reagan seine Präsidentschaft angetreten. Er bezeichnete die Sowjetunion auch als Reich des Bösen. Dann kam Gorbatschow. «Er hatte grosse Probleme im Innern – hohe Kosten mit dem Afghanistankrieg und mit dem Wettrüsten – und suchte die Annäherung an den Westen», erklärt Perovic.
Auf die heutige Situation übertragen, meint der Experte, könne man bestenfalls feststellen: Viel schlimmer kann es nicht mehr kommen. Beide Seiten haben sich mit Sanktionen belegt und diplomatische Manöver vollzogen. «Jetzt oder nach Abflauen der Krise wäre der Zeitpunkt, sich anzunähern.» Perovic ist überzeugt, dass beide Seiten mittelfristig ein Interesse haben, die gegenseitigen Beziehungen zu entspannen.
Ausserdem sitze der russische Präsident Wladimir Putin fest im Sattel. «Er könnte es sich also leisten, mit einer diplomatischen Offensive auf den Westen zuzugehen», sagt Perovic, ruft aber zugleich in Erinnerung, dass das heutige Russland nicht mit der Sowjetunion zu vergleichen sei.
Die Russen hätten im Moment grosse wirtschaftliche Probleme und seien auf Investitionen sowie auf ein normales, funktionierendes Geschäftsumfeld angewiesen. «Russland hat nicht dasselbe Potenzial wie die Sowjetunion.» China, auf das sich die Russen in den letzten Jahren hin orientiert hätten, sei kein Ersatz ist für die Beziehungen zu Europa, ihrem wichtigsten Handelspartner. «Russland hat ein Interesse daran, dass sich diese Beziehungen wieder normalisieren.»