Die Piazza ist klein, versteckt in den Strassenwinkeln der Quartieri Spagnoli, der berüchtigten «Unterstadt» zwischen dem Vomero, dem eleganten Hügelviertel, und der Piazza del Plebiscito, dem «Wohnzimmer» der Stadt.
Dort blickt an einer Hausfassade auf einem riesigen Wandgemälde ein junger Mann auf die Passanten: mit mahnenden grossen Augen, einer Goldkette auf sonst nacktem Oberkörper – darunter der grosse Schriftzug «Wahrheit und Gerechtigkeit»!
Davor eine Gruppe von Männern: ein ehemaliger Hausbesetzer und linker Aktivist präsentiert sich als «Portavoce», als Sprecher. Er macht die Öffentlichkeitsarbeit und stellt einen unruhig blickenden, etwa 40-jährigen Mann vor. Das ist Vincenzo Russo. Sein Sohn Ugo ist auf dem Bild an der Hauswand zu sehen.
Für viele hier sind wir nur Ungeziefer, das man zerstören muss.
Es braucht wenig, und das Eis ist gebrochen. Vincenzo, der sich als Hilfsarbeiter in einer Gärtnerei vorstellt, sieht in einem ausländischen Journalisten keine Gefahr, keinen voreingenommen Chronisten, der ihn und seinen Sohn gleich in die Ecke von Kriminellen stellt. «Niemand in dieser Stadt will ernsthaft wissen, warum Dinge geschehen, wie sie mein Sohn getan hat, warum Jugendliche Raubüberfälle begehen», sagt er. «Für viele hier sind wir doch nur Ungeziefer, das man zerstören muss.»
Alfonso De Vito, Sozialarbeiter und Sprecher des Komitees «Ugo Russo», pflichtet bei: «Noch immer herrscht in dieser Stadt die Mentalität: jedem, was ihm gebührt. Reiche bleiben reich, Arme bleiben arm. Es gibt keinen sozialen Zusammenhalt. Ein Jugendlicher, der eine Straftat verübt, kann auch durch eine Kugel sterben: selbst schuld.»
Am 8. März vor einem Jahr fährt der damals gerade einmal 15-jährige Ugo Russo mit einem Freund nachts im feinen Viertel Santa Chiara mit dem Moped vor ein parkendes Auto und hält dem Fahrer eine Pistole ins Gesicht. Ugo will Bargeld oder wenigstens die Armbanduhr. Ugos Pistole ist nur eine Attrappe, der Fahrzeuginsasse aber ist ein Carabiniere in Zivil, der von seiner Dienstwaffe Gebrauch macht und dreimal schiesst.
Ugo stirbt noch am Tatort. Die Ermittlungen laufen schleppend, der Militärpolizist ist seitdem vom Dienst suspendiert, doch die Hauptverhandlung hat noch immer nicht begonnen.
«Keiner sagt uns, ob mein Sohn an diesem Abend hätte gerettet werden können», beklagt Vater Vincenzo Russo. Nach einem Jahr sei immer noch nicht entschieden, ob der Carabiniere aus Notwehr gehandelt habe oder ein kaltblütiger Mörder sei. «Wir fordern Wahrheit und Gerechtigkeit – wie ein lauter Schmerzensschrei!» Die Trauer des Vaters ist verständlich. Aber ist seine Version die ganze Wahrheit?
Valentino di Giacomo hat eine andere Sicht. Der Polizeireporter der Tageszeitung «Il Mattino» beobachtet seit Jahren einen Anstieg der Jugendkriminalität in Neapel.
«Ugo plante den Überfall, damit er zum Beispiel in die Disko gehen kann», sagt der Journalist. Diese Nachwuchskriminellen bräuchten das Geld nicht zum Überleben, sondern wollten damit prahlen. Viele Jugendliche in den Quartieri Spagnoli oder anderen Problemvierteln seien stolz auf ihre Kriminalstatistik. «Wenn man sie Baby-Camorristi nennt, ist das für sie ein Kompliment.»
Fast 1000 Jugendliche in zwei Jahren
2019 wurden in Neapel 142 Minderjährige verhaftet, weitere 374 angezeigt. 2020 wurden trotz des Lockdowns noch immer 110 Jugendliche verhaftet und weitere 286 angezeigt: Fast 1000 Minderjährige in nur zwei Jahren – eine Tendenz, die sich auch in den Vorjahren zeigte.
«Durch die Verhaftungswellen der letzten Jahre sind die Stadtteil-Bosse der Camorra fast alle im Gefängnis», erklärt di Giacomo. Dadurch sei ein Machtvakuum entstanden, das die Jugendlichen von der Strasse ausnutzten. «Sie spielen sich als Bosse auf und gleiten auf einer Welle gewaltbereiter Jugendkultur.»
Minderjährige hätten eine feste Rolle in den kriminellen Organisationen, so Valentino di Giacomo. Sie helfen beim Drogenhandel oder stehen Schmiere, falls die Polizei auftaucht. Wenn sie jünger als 14 Jahre sind, wandern sie nicht ins Gefängnis. Die Anzeige erhalten nur die Eltern.
Durch Covid haben mancherorts 60 Prozent der Jugendlichen die Schule abgebrochen.
Diese Jungen und Mädchen fehlen auch in der Schule. 40 Prozent der Schülerinnen und Schüler brechen ab, schaffen gerade einmal die Grundschule. Rachele Furfaro leitet das Bildungs- und Jugendzentrum Foqus mitten im Spanischen Viertel. Die ehemalige Bildungsstadträtin Neapels kämpft um jedes Kind, damit es hier in den Kindergarten, in die Grund- und besser noch in die Mittelschule geht.
«Die Schule gibt sozialen Halt, Perspektive, was zu Hause vielen Kindern fehlt», sagt Furfaro. Die Eltern seien oft arbeitslos oder schlügen sich mit Gelegenheitsjobs herum. Ein Abgleiten in die Kriminalität sei dann ein Leichtes. «Gerade jetzt durch Covid und die damit verbundene soziale Krise haben in manchen Stadtteilen mittlerweile 60 Prozent der Jugendlichen die Schule abgebrochen.»
Da lockt dann schnelles Geld durch Drogenhandel oder Raubüberfall. Auch Minderjährige sterben dabei. Der 15-jährige Ugo Russo ist nur der letzte prominente Vorfall.
Die Familien der Jugendlichen errichten dann kleine Altäre oder stellen Fotos und Erinnerungstafeln in die zahlreich vorhandenen Heiligenbilder, die Neapels Altstadt säumen.
Diese Art von Volksverehrung aber soll jetzt ein Ende haben. Wandgemälde und Mini-Altäre mit Fotos «gefallener» Jungkrimineller werden von den Ordnungskräften übermalt oder abgetragen. «Baby-Bosse» dürften nicht wie Heilige verherrlicht werden – so die Direktive aus dem Innenministerium.
Valentino di Giacomo war bei einigen dieser «Säuberungsaktionen» dabei. Angehörige und Anwohner reagieren dabei oft aggressiv. Sie sehen das Einschreiten der Staatsgewalt nur als Provokation.
Auch Vincenzo Russo, der Vater des verstorbenen Ugo, sieht sich als Opfer der Obrigkeit. «Wenn wir aus unseren Vierteln kommen, klebt uns schon der Dreck an den Schuhen. In der Stadt sieht man auf uns nur abschätzig herab. Dabei sind wir nicht jene, für die uns alle anderen halten».
In seinen Worten steckt Traurigkeit. Als ob Neapel sich von seinem sozialen Gefälle, vom gegenseitige Misstrauen zwischen Gut und Schlecht niemals lösen könne.
Das Wandbild von Ugo Russo bleibt vorerst erhalten. Das hat jetzt ein Gericht entschieden. Vielleicht lädt es doch noch zum Nachdenken ein: Darüber, was alles schiefläuft, wenn ein 15-Jähriger nachts in Neapel mit einer falschen Pistole einen Raubüberfall unternimmt.