Was ist passiert? Ein Strafrechtsanwalt ist am Mittwochmorgen vor seinem Haus in Amsterdam erschossen worden. Derk Wiersum war der Verteidiger eines Kronzeugen in einem grossen Mordprozess gegen eine organisierte Bande. Der Täter, laut Augenzeugen ein 16- bis 20-jähriger Mann, ist noch auf der Flucht. Er konnte nach Angaben der Polizei zu Fuss entkommen. Behörden gehen davon aus, dass sich der junge Mann mit dem Mord höher in die Hierarchie der kriminellen Bande hieven wollte.
Was sind die Reaktionen? Vertreter aus Politik und Justiz sprachen von einem Angriff auf den Rechtsstaat. Ministerpräsident Mark Rutte zeigte sich im Parlament in Den Haag «zutiefst besorgt». «Das Land befindet sich in einer totalen Schockstarre», erzählt SRF-Korrespondentin Elsbeth Gugger. Statt wie üblich hart miteinander zu debattieren, fassten sich die Parlamentarier mit Samthandschuhen an.
War der laufende Prozess das Mordmotiv? Der Kronzeuge Nabil B. sitzt als verdächtiges Mitglied einer Drogenbande mit 15 weiteren Männern in Untersuchungshaft. «Diese müssen sich für mehr als ein Dutzend Morde verantworten – und der Kopf der Bande befindet sich noch immer auf der Flucht», sagt Gugger. Die Mitglieder dieser Bande gelten als schwerste Kriminelle des Landes.
Vor einem Jahr wurde Nabil B.s Bruder ermordet. Deshalb hat er sich dafür entschieden, als Kronzeuge gegen die Drogenbande auszusagen. Man geht davon aus, dass der Anwalt aufgrund der Verteidigung von B. in diesem grossen Prozess ermordet wurde. Bandenkriege gibt es in den Niederlanden seit Jahren, doch der Mord an einem Anwalt ist ein Novum. «Bisher liquidierten sich die kriminellen Mitglieder untereinander. Deshalb ist auch der Schock so gross», so Gugger.
Hätte der Mord verhindert werden können? Der ermordete Derk Wiersum hat offenbar zuvor Drohungen erhalten. Er hätte sich also einen Bodyguard nehmen können – wie es etwa ein Journalist einer niederländischen Boulevardzeitung seit zwei Jahren hat, der von der gleichen Bande bedroht wird. Aber die Frage bleibt offen, ob Personenschutz den Mord hätte verhindern können, sagt Korrespondentin Gugger. «Wie viele konnte sich Wiersum wohl nicht vorstellen, dass es ihn treffen könnte.»
Wie geht es im Prozess weiter? Der Justizminister untersucht nun die weiteren Schritte. Dafür hat er die Unterstützung des Anti-Terror-Schutzes angefordert. Mit dem Orden der Strafrechtsanwälte und Richterverbänden wird der Justizminister entscheiden, ob zusätzlich Personen gesichert werden müssten. «Alle sind sich aber einig, dass der Prozess gegen die Bande weitergeführt werden muss», so Gugger. Die Anklagepunkte werden im kommenden Jahr besprochen.