Im Angriffskrieg Russlands auf die Ukraine geraten viele Soldaten und Kämpfer beider Seiten in Kriegsgefangenschaft. Während Russland seine Gefangenenlager für das Internationale Komitee vom Roten Kreuz geschlossen hält, kann das IKRK die Lager in der Ukraine besuchen. Mit dabei war kürzlich auch die «Zeit»-Journalistin Olivia Kortas.
SRF News: Was haben Sie in dem Lager mit russischen Gefangenen in der Westukraine gesehen?
Olivia Kortas: Das Lagergelände umfasst mehrere Gebäude und ist mit Stacheldraht umzäunt. Es gibt ein Kantinen-Gebäude, Schlafgebäude und Werkstätten, wo die Gefangenen tagsüber arbeiten.
Die Kriegsgefangenen tragen Gefängniskleidung, müssen mit gebücktem Rücken gehen und dürfen den Blick nicht heben.
Die Gebäude sind geheizt. Das Lager stammt aus dem Jahr 1978, wurde seither als Strafkolonie gebraucht und erinnert entsprechend an Sowjetzeiten. Alles ist etwas verfallen und düster. Die Inhaftierten tragen Gefangenenkleidung, müssen mit gebücktem Rücken gehen und dürfen den Blick nicht heben.
Wie geht es den Kriegsgefangenen in der Ukraine?
Wer schon länger dort war, wirkte eher ruhig und gefasst. Ich sprach auch mit einem Wagner-Söldner, der erst einen Tag im Lager war und stark traumatisiert wirkte. Er kam offenbar direkt von der Front, wo er unter ukrainischem Beschuss gestanden hatte.
Was sagen die russischen Kriegsgefangenen über ihre Einstellung gegenüber ihrem Heimatland?
Viele der Inhaftierten sind Wagner-Söldner, die zuvor in russischen Gefängnissen sassen und sich für einen Straferlass zum Kriegsdienst anheuern liessen. Manche von ihnen wussten gar nicht, wofür sie an der Front gekämpft hatten.
Viele der Gefangenen gaben an, nicht gewusst zu haben, wofür sie gekämpft haben.
Einer dachte, es ginge um Bodenschätze, andere sagten, es sei halt einfach patriotische Pflicht, in diesen Krieg zu ziehen. Viele sagten aber auch, dass sie an der Front gar nicht kämpfen wollten, weil sie nicht wussten, wofür sie kämpften. Sie fühlten sich als Spielbälle der Politik. Aber klar: In ukrainischer Gefangenschaft können sie gar nicht sagen, sie fänden den Angriff auf die Ukraine gut, denn das würde ihnen im Lager sicher schaden.
Hat sich ihre Einstellung gegenüber Russland in Kriegsgefangenschaft verändert?
Tendenziell ja – aber viele wollten eigentlich von Anfang an gar nicht in diesen Krieg ziehen. Einer sagte mir, er würde den Russen jetzt gerne erklären, dass sie in der Ukraine nicht gebraucht würden. Er sei davon ausgegangen, dass die Russen in der Ukraine willkommen seien, habe nun durch den Krieg aber verstanden, dass dem nicht so sei, erklärte er mir.
Gibt es Anzeichen dafür, dass es in dem Lager zu Misshandlungen kommt?
Laut der UNO kommt es vor allem in Gefangenenlagern in Russland zu Misshandlungen, in ukrainischen Lagern soll das nur sehr selten vorkommen. Auf entsprechende Fragen wollten die russischen Gefangenen in dem Lager, das ich besucht hab, aber nicht antworten – vielleicht, weil sie tatsächlich Misshandlungen erlebt hatten. Womöglich geschah dies aber bei der Gefangennahme oder beim Transport ins Lager.
Laut der UNO kommt es in ukrainischen Gefangenenlagern nur sehr selten zu Misshandlungen.
Laut der UNO – ich habe mit Vertretern gesprochen, die mit mehr als 220 russischen Gefangenen gesprochen hatten – greifen die ukrainischen Behörden scharf durch, sollte es in seltenen Fällen doch zu Misshandlungen in Gefangenenlagern kommen.
Das Gespräch führte Yves Kilchör.