Seit fast zehn Monaten ist Marianna Checheliuk eine Kriegsgefangene Russlands. Die 22-jährige Polizistin aus Mariupol hat nie für die ukrainische Armee gekämpft. Russische Soldaten nehmen sie während einer Evakuierungsmission für Zivilisten fest – praktisch vor den Augen von Vertretern des Internationalen Komitees vom Roten Kreuz (IKRK).
Ihre Familie ist in die Schweiz geflüchtet, lebt in Rheinfelden. Mariannas Vater Vitalii Checheliuk erhebt schwere Vorwürfe gegen das IKRK. «Sie haben versprochen, dass sie unsere Kinder sicher auf ukrainischen Boden bringen – stattdessen schickten sie sie in die Hände Russlands», sagt er in der «Rundschau».
Evakuierung aus Stahlwerk in Mariupol
Marianna hatte mit ihrer 16-jährigen Schwester Alina im Stahlwerk Asowstal Schutz gesucht, während ihre Heimatstadt Mariupol eingenommen wurde. Mit ihnen hatten hunderte Zivilisten und Soldaten im Untergrund der Fabrik ausgeharrt. Wochenlang unter fallenden Bomben – mit wenig Wasser und kaum Nahrung.
Ende April handelt das IKRK mit der Ukraine und Russland einen grünen Korridor aus, um die Zivilisten ins ukrainisch kontrollierte Saporischja zu evakuieren. Doch der Bus, der sie dorthin bringen sollte, macht einen Umweg über ein Zeltlager im russisch besetzten Bezimenne. «Dort haben sie unsere Dokumente geprüft und uns verhört. Wir mussten uns nackt ausziehen – sie suchten uns nach Tattoos und Narben ab», erzählt Alina.
Vertreter des IKRK sind im Zeltlager präsent. Die Schwestern werden getrennt. Marianna sei von russischen Soldaten abgeführt worden. Alina: «Ich flehte das IKRK um Hilfe an. Aber sie sagten, sie könnten nichts tun.» Marianna kommt in ein Gefängnis in der besetzten Stadt Donezk. Einzelhaft.
IKRK weist die Vorwürfe zurück
Mariateresa Cacciapuoti hat die Evakuierungsmissionen aus Asowstal für das IKRK begleitet. Sie wehrt sich gegen die Vorwürfe: «Die Evakuierungsroute wird nicht vom IKRK, sondern von den Kriegsparteien zusammen festgelegt.» Das IKRK sei lediglich Vermittler. «Wir versuchen, sicherzustellen, dass die Evakuierung auf eine möglichst sichere Art und Weise geschieht», so Cacciapuoti.
Wenn eine Kriegspartei den Status «Zivilistin» einer Person ändere, könne das IKRK dies nicht verhindern, erklärt sie. «Aber wir haben immer die Möglichkeit, Bedenken zu äussern.»
Angehörige warten auf Informationen
Bis heute wartet Familie Checheliuk vergeblich auf eine offizielle Bestätigung des IKRK, dass Marianna in Kriegsgefangenschaft ist. Wie ihnen ergeht es auch anderen Familien von Gefangenen.
Anna Zaitsevas Mann war Soldat, auch er versteckte sich in Asowstal. Als die ukrainische Armee sich ergab, wurde er gefangen genommen – vor laufenden Kameras des russischen Fernsehens. Trotzdem wartet auch Zaitseva seit Monaten auf eine Bestätigung des IKRK. «Ich weiss nicht einmal, ob er noch lebt.»
Mariateresa Cacciapuoti betont, das IKRK fordere die Kriegsparteien laufend auf, seinen Vertretern Zugang zu den Kriegsgefangenen zu gewähren. «Ich verstehe, dass die Menschen auf Neuigkeiten von ihren Liebsten warten», so Cacciapuoti. «Aber wir können nicht ohne Genehmigung eine russische oder ukrainische Haftanstalt betreten.»
Marianna wurde zuletzt im russischen Gefängnis Taganrog gesehen. So erzählen es freigelassene Kriegsgefangene. Einer Mitinsassin hat Marianna aufgetragen, ihrer Familie zu sagen: «Quält euch nicht, ich schaffe das schon.»