In den Städten rund um Kiew werden täglich neue Opfer gefunden, die während der Besatzung der russischen Armee getötet wurden (lesen Sie hier unsere Reportage). Auch das Internationale Komitee vom Roten Kreuz (IKRK) ist vor Ort. Dominik Stillhart, Leiter Operationen, berichtet im Interview, welches Bild sich dem Team des IKRK in der Ukraine bietet.
SRF: Treffen ihre Mitarbeitenden solche Gräueltaten, die zurzeit rund um Kiew sichtbar werden, auch andernorts in der Ukraine an?
Dominik Stillhart: Die Bilder aus Kiew sind natürlich extrem erschreckend. Sie decken sich auch mit den Berichten unserer Mitarbeiter und den Bildern, die sie sehen. Es deutet viel darauf hin, dass hier ziemlich schwere Kriegsverbrechen begangen wurden. Wir machen uns extreme Sorgen um den Osten des Landes, wo der Krieg immer intensiver wird. Wir befürchten, dass wir dort die gleichen Bilder sehen werden. Wir müssen alles daran setzen, dass dies nicht wiederholt wird.
Wie sieht die Arbeit der Mitarbeitenden vor Ort konkret aus? Was ist besonders wichtig?
Wir haben 750 Mitarbeiter vor Ort, vor allem im Osten der Ukraine. Es geht in erster Linie darum, Nothilfe zu leisten: Wasser, Nahrungsmittel und medizinische Versorgung. Wir konnten auch immer wieder Zivilistinnen und Zivilisten aus den belagerten Städten evakuieren, zum Beispiel aus Mariupol. Wir konnten auch viele Kriegsverletzte aus vielen dieser Städte evakuieren.
Sie kümmern sich vor allem um die Zivilbevölkerung. Was ist die Rolle des IKRK in Bezug auf militärische Opfer?
Wir haben natürlich eine ganz besondere Rolle. Im Rahmen der Genfer Konvention arbeiten wir stark daran, Kriegsgefangene besuchen zu können und gefallene Soldaten wieder zurückführen zu dürfen. Eine ganz wichtige Aufgabe hat der zentrale Suchdienst, der dafür sorgt, dass in diesem Konflikt möglichst wenige Menschen verschwinden. Zurzeit sind beim zentralen Suchdienst bereits mehr als 2000 Identitäten registriert. Wir konnten schon Familien informieren über Kriegsgefangene und gefallene Soldaten, was wichtig ist in diesem Kontext.
Was macht das IKRK mit den Informationen über diesen Krieg? Könnten sie in einem möglichen Gerichtsverfahren zum Tragen kommen?
Wie in jedem anderen Kontext sammeln wir Informationen über mutmassliche Völkerrechtsverletzungen und teilen diese Informationen mit den jeweiligen Kriegsparteien. Ziel ist immer, dass das internationale humanitäre Völkerrecht stärker respektiert wird. Wir besprechen das in einem vertraulichen Dialog, deswegen mischen wir uns nicht in Gerichtsverfahren ein. Diese Informationen werden nicht weitergeleitet.
Immer wieder wird auch Kritik laut, dass das IKRK sich zu schnell auf die Bedingungen der russischen Kriegspartei einlasse und sie zu wenig kritisiere. Weshalb bezieht das IKRK keine klare Stellung im Krieg?
Unsere Neutralität wird oft missverstanden. Ich habe dafür auch Verständnis. Es sind polarisierende Kontexte. Aber gerade in solchen ist es wichtig, den Dialog mit den Kriegsparteien aufrechtzuerhalten. Nur so können wir allen Kriegsbetroffenen helfen und das Vertrauen schaffen, um Kriegsgefangene zu besuchen, gefallene Soldaten zurückzuschaffen und mehr. Neutralität bedeutet nicht Gleichgültigkeit. Im Gegenteil: Es ist ein Bekenntnis zu denen, die am meisten betroffen sind von diesem Krieg.
Das Gespräch führte Bigna Silberschmidt.