Seit dem Amtsantritt von US-Präsident Joe Biden steigt die Zahl der Migrantinnen und Migranten, die an der Grenze zu Mexiko aufgegriffen werden. Im März waren es über 170'000, so viele wie seit 15 Jahren nicht mehr. Darunter waren über 18'000 unbegleitete Minderjährige.
Die US-Medien und die Republikaner sprechen von einer Krise und geben die Schuld dem neuen Präsidenten, der eine humanere Migrationspolitik versprochen hat. Doch wo und wie ist diese Krise an der Grenze sichtbar? USA-Korrespondent Matthias Kündig ist in die Grenzstadt Brownsville im südlichsten Zipfel der USA gereist.
Einkaufen ist schwierig geworden im Stadtzentrum von Brownsville. Die meisten Geschäfte sind geschlossen, ebenso viele Restaurants und Bars. «Die Stadt steckt tief in der Krise, seit die Grenze wegen der Pandemie geschlossen wurde. Seither kommen die Mexikaner nicht mehr rüber, um hier einzukaufen», sagt Jorge, der Kellner im Main Street Deli. Und was ist mit der Migrationskrise? Jorge schüttelt den Kopf. Davon merke man in Brownsville kaum etwas. «Nur im Busbahnhof sieht man Migranten. Aber die stören nicht.»
Der Busbahnhof liegt nur hundert Meter vom Grenzübergang entfernt. Unter dem Vordach hat «Team Brownsville» einen Stand aufgebaut. Dort verteilen sie Kleider, Schuhe und Essenspakete an die Migrantinnen und Migranten, die auf ihre Weiterreise warten. Daneben steht ein Zelt der Stadtverwaltung und davor einige Reihen Stühle, wo vor allem Familien mit Kleinkindern Platz genommen haben. Wessen Name aufgerufen wird, geht zum Corona-Test. Zudem unterstützen Mitarbeiter der Stadtverwaltung die Migrierenden dabei, Fahrkarten für die Weiterreise zu kaufen und die Angehörigen in den USA zu benachrichtigen.
Cindy Estefania stammt aus Honduras, wie die meisten, die hier warten. Zusammen mit ihrem Mann und der zweijährigen Tochter hat sie im Februar ihre Heimatstadt San Pedro Sula verlassen. «Wegen der Ausgangssperre konnte ich nicht mehr zur Arbeit und wurde entlassen. Und weil wir Verwandte in den USA haben, wurden wir von einer Gang erpresst.» Nachdem ihr Onkel ermordet wurde, sind sie geflüchtet, zu Fuss und per Bus. Nach einem Monat erreichten sie Matamoros, die mexikanische Stadt, die Brownsville gegenüber liegt. Weil die Grenze geschlossen war, sind sie nach ein paar Tagen ausserhalb der Stadt durch den Rio Grande geschwommen und haben sich Grenzwächtern gestellt.
Cindy Estefania und ihre Familie hatten Glück. Sie dürfen in den USA auf den Entscheid über ihr Asylgesuch warten. 90 Prozent derjenigen, die von den Patrouillen der US-Grenzschutzbehörde angehalten werden, werden hingegen unverzüglich wieder nach Mexiko ausgeschafft. Es gilt noch immer das Pandemie-Notrecht, der sogenannte «title 42», mit dem der damalige Präsident Trump im letzten Frühsommer die Grenze dicht machte und das Recht auf Asyl faktisch aushebelte. Präsident Biden hat «title 42» nicht ausser Kraft gesetzt. Nur unbegleitete Minderjährige können ins Land. Ein Gericht hat dies im letzten November so verfügt. Zudem können hier im Süden von Texas auch Familien mit Kleinkindern bleiben. Denn der gegenüberliegende mexikanische Bundesstaat Tamaulipas weigert sich, diese wieder zurückzunehmen.
Drüben in Matamoros ist die Migrationskrise ebenfalls nicht sichtbar. Vor zwei Wochen hat die mexikanische Migrationsbehörde INM das Flüchtlingscamp im Stadtzentrum aufgelöst. Im letzten Jahr warteten hier zeitweise über 3000 Migrantinnen und Migranten auf ihren Asylentscheid. Viele durften die Grenze seit dem Amtsantritt der Biden-Regierung passieren. Alle anderen wurden vertrieben. «Die Migranten haben sich seither in den gefährlichen Aussenquartieren versteckt, aus Angst, in ihre Heimat deportiert zu werden», sagt Sam Bishop, der für die US-Hilfsorganisation GRM in Matamoros ein Ambulatorium betreibt.
Sam Bishop und seine freiwilligen Helferinnen und Helfer müssen seither per Bus dorthin fahren, wo sie Migrantinnen und Migranten vermuten. Denn die meisten trauen sich nicht mehr, zum Ambulatorium von GRM ins Stadtzentrum zu gehen. «Es ist schwieriger geworden, die Menschen medizinisch zu versorgen», sagt Bishop. Zudem sei die Stimmung in der Bevölkerung gegenüber den Migrierenden gekippt, seit die Pandemie die Grenzstadt erreicht hat. «Wie andernorts werden die Flüchtlinge zu Unrecht beschuldigt, die Seuche eingeschleppt zu haben», sagt der pensionierte Kinderarzt David Wood von GRM.
Beim Grenzübergang von Matamoros nach Brownsville werden Migranten ohne gültige Einreisepapiere schon auf der Brücke über den Rio Grande von bewaffneten Grenzwächtern gestoppt und wieder zurückgeschickt. Nur ausserhalb von Brownsville, wo der drei Meter hohe Grenzzaun grössere Lücken aufweist, ist es möglich, ungehindert die Grenze zu passieren. Doch diese Grenzabschnitte werden von der US-Grenzschutzbehörde mit Kameras und Sensoren überwacht. Die Mehrheit der Migrantinnen und Migranten aus den zentralamerikanischen Ländern suchen aber ohnehin den Kontakt zu den Grenzwächtern, wenn sie den Fluss überquert haben. Denn nur so können sie offiziell ein Asylgesuch stellen.
Gerne würde man erfahren, wie die Grenzwächter die gegenwärtige Situation erleben. Aber Interviewanfragen beim Grenzschutz in Brownsville wurden abgelehnt. «Wir haben kein grünes Licht aus der Hauptstadt», teilt Supervisor Mares per Telefon mit. Journalistinnen und Journalisten bleibt auch der Zugang zu den Internierungslagern verwehrt, wo zeitweise Hunderte von minderjährigen Migrantinnen und Migranten zusammengepfercht warten müssen, bis sie zu Verwandten oder Pflegefamilien gebracht werden können. «Dort spielt sich die eigentliche Krise ab», sagt Andrea Rudnik, die Gründerin und Leiterin von «Team Brownsville», der lokalen Hilfsorganisation.
Aber hier in Brownsville gebe es keine Migrationskrise, sagt Rudnik. Die Zusammenarbeit mit den Migrationsbehörden funktioniere hervorragend. «Jeden Tag erhalte ich mehrere SMS vom Grenzschutz, in denen sie ankündigen, wie viele Migrantinnen und Migranten an den Busbahnhof gebracht werden.» Auch die Koordination mit den Stadtbehörden sei ausgezeichnet: «Wir ziehen alle an einem Strick. Denn Migration hat es hier schon immer gegeben.»
Dies bestätigt auch der Bürgermeister von Brownsville, Trey Mendez, in einem Telefongespräch. Derzeit würden täglich zwischen 100 und 250 Migrantinnen und Migranten zum Busbahnhof gebracht. «Wir hätten Kapazität bis zu 400 Menschen pro Tag.»
«Es herrscht also keine Krise», sagt Mendez. Und er bestätigt, was viele in der Stadt sagen: «Der Alltag für die Menschen ist nicht geprägt durch die Migration. Ihre Hauptsorge ist viel mehr die Wirtschaftskrise».