An der US-Südküste herrsche eine gewaltige Migrationskrise, ist in den Medien zu lesen. Der USA-Korrespondent von Radio SRF, Matthias Kündig, war in Brownsville (Texas) und in der benachbarten mexikanischen Grenzstadt Matamoros. Was er gesehen hat, berichtet er hier.
SRF News: Ist der Andrang von Migrantinnen und Migranten in Texas wirklich so gewaltig ist, wie das in den Medien berichtet wird?
Matthias Kündig: Tatsächlich ist die Zahl der Migranten, die vom US-Grenzschutz angehalten werden, am Steigen. Doch das ist nicht sichtbar. Die Vorstellung, dass Horden von Migrantinnen und Migranten die Grenze stürmen, entspricht nicht der Realität.
Hier hatten kürzlich Menschen den Rio Grande überquert.
Ich fuhr dem Rio Grande entlang von Brownsville nach McAllen – und habe dort nirgends jemanden beobachten können, der die Grenze überquert hätte. Ich stiess an einigen Orten jedoch auf Plastiksäcke mit nassen Kleidern – ein Zeichen, dass hier kürzlich Menschen den Fluss überquert hatten.
In Matamoros wurde kürzlich ein überfülltes Flüchtlingslager aufgelöst – wo sind diese Menschen jetzt?
Seit Anfang Februar haben diese Migranten die Grenze in kleinen Gruppen offiziell überqueren können, um in den USA auf ihren Asylentscheid zu warten. Wer das noch nicht geschafft hat – oder später in Matamoros angekommen ist –, ist meist untergetaucht. Diese Menschen leben jetzt in den gefährlichen Gebieten am Rand der Stadt, oder sie verstecken sich irgendwo im Umland im Freien.
Die mexikanischen Behörden gehen sehr ruppig mit den Migranten um.
Das macht es den Hilfswerken sehr schwierig, ihnen Hilfe zu leisten und sie zu versorgen. Die Migranten fürchten die mexikanischen Behörden, die sehr ruppig mit ihnen umgehen und alles dafür tun, dass die Migration in Matamoros nicht sichtbar ist.
Dramatisieren die Republikaner die Lage, wenn sie von einer Migrationskrise an der US-Südgrenze sprechen?
Man muss differenzieren: Es gibt tatsächlich grosse Probleme bei der adäquaten Unterbringung von unbegleiteten Kindern und Jugendlichen. Es gibt zu wenig Personal und Unterkünfte, um sie rasch administrativ zu erfassen und sie zu Verwandten in den USA zu bringen.
Die Republikaner unterschlagen, dass Trump das Asylwesen völlig ausgehöhlt hat.
Doch klar ist auch: Von republikanischer Seite wird Stimmung gegen Präsident Joe Biden gemacht. Man gibt ihm die Schuld für die steigende Zahl an Menschen, die in die USA wollen. Doch sie unterschlagen dabei nicht nur, dass die Trump-Regierung das Asylwesen völlig ausgehöhlt und Probleme nicht gelöst hat, sondern auch, dass die Zahl der Ankommenden zur Zeit der Trump-Präsidentschaft zeitweise noch viel höher war als jetzt.
Präsident Biden hat Vizepräsidentin Kamala Harris mit dem Migrationsdossier betraut. Wird sie es schaffen, an der Grenze ein geordnetes Asylverfahren einzuführen?
Es braucht zunächst mehr Unterkünfte und mehr Personal – das lässt sich wohl relativ rasch bewerkstelligen. Doch sie soll auch mit Mexiko und den Herkunftsländern zusammenarbeiten, damit nicht mehr so viele Menschen Richtung USA losziehen. Wie das geht, zeigt die Episode von letzter Woche: Da liess Mexikos Präsident auf einmal die Südgrenze zu Guatemala schliessen, im Gegenzug erhielt Mexiko mehrere Millionen Impfdosen aus den USA. Auch wenn beide Seiten einen Zusammenhang abstreiten – man kann sich denken, wo die Wahrheit liegt.
Mexiko schloss die Grenze zu Guatemala – und erhielt im Gegenzug Millionen Impfdosen aus den USA.
Harris wird alles versuchen, dass die Zahlen rasch sinken und das Migrationsproblem wieder aus den Schlagzeilen verschwindet. Es jedoch an der Wurzel zu packen, dass nicht mehr so viele Menschen aus Mittelamerika losziehen, ist eine Herkulesaufgabe, die mindestens eine Generation dauern wird.
Das Gespräch führte Barbara Büttner.