Der inhaftierte Anführer der verbotenen Kurdenorganisation PKK, Abdullah Öcalan, ist offenbar bereit, den bewaffneten Aufstand gegen die türkische Regierung nach Jahrzehnten zu beenden und stattdessen den Dialog zu suchen. Das sagte Öcalan, als ihn Mitglieder seiner Partei im Gefängnis auf der Insel Imrali besuchten. Was das für den Kurdenkonflikt bedeuten könnte, erklärt der Journalist Thomas Seibert in Istanbul.
SRF News: Wie genau hat sich PKK-Anführer Abdullah Öcalan geäussert?
Thomas Seibert: Er sagte seinen Besuchern, jetzt sei die Zeit für Frieden, Demokratie und Brüderlichkeit in der Türkei. Zudem kündigte er seine Bereitschaft für einen Aufruf an die PKK-Kämpfer an, die Waffen niederzulegen. Er strebe jetzt eine politische Lösung unter dem Dach des türkischen Parlaments an, so Öcalan weiter.
Wieso ist Öcalan jetzt, nach einem Vierteljahrhundert im Gefängnis, bereit für eine Annäherung an die türkische Regierung?
Verschiedene Faktoren kommen zusammen: So hat die Regierung von Präsident Recep Tayyip Erdogan einen neuen Versuch für eine Einigung in der Kurdenfrage gestartet. Eine solche könnte für Öcalan am Schluss die Freiheit nach mehr als 25 Jahren im Gefängnis bedeuten. Denn ausgerechnet die türkischen Nationalisten der MHP – sie sind die Hauptfeinde der kurdischen Autonomiebestrebungen – hatten im Oktober vorgeschlagen, Öcalan könne freikommen, falls die PKK die Waffen niederlege.
Offenbar sieht die türkische Regierung jetzt einen guten Zeitpunkt, um einen Versuch zu starten, die Kurdenfrage zu lösen.
Zuletzt kam hinzu, dass der PKK-Ableger in Nordsyrien durch den Sturz des Assad-Regimes entscheidend geschwächt worden ist. Offenbar sieht die türkische Regierung jetzt einen guten Zeitpunkt, um es noch einmal zu versuchen, die Kurdenfrage zu lösen.
Wie überraschend sind die neusten Aussagen Öcalans?
Eigentlich sind sie nicht sehr aussergewöhnlich. Schon 1999 bot er bei seiner Festnahme dem türkischen Staat seine Mitarbeit an. Und 2015 gab es bereits einen Versuch, die Kurdenfrage friedlich beizulegen – auch damals bot Öcalan einen Gewaltverzicht der PKK an. Doch bislang sind alle Einigungsversuche gescheitert.
Kaum je werden Besucher zu Öcalan vorgelassen. Wieso jetzt?
Einerseits weil Erdogan die sich jetzt durch die Schwäche der PKK bietende Chance nutzen möchte. Und nicht zuletzt will und braucht er auch die Unterstützung kurdischer Abgeordneter im Parlament für eine Verfassungsänderung, die ihm eine weitere Amtszeit ermöglichen soll.
Erdogan versucht, mehrere Stränge und Ziele zusammenzufügen.
Und so kündigte Ankara nur wenige Stunden nach Öcalans Angebot ein Milliardenprogramm zum wirtschaftlichen Aufbau des Kurdengebiets in der Türkei an. Erdogan versucht also, mehrere Stränge und Ziele zusammenzufügen.
Wie gross sind die Chancen, dass diesmal ein erfolgreicher Friedensprozess in Gang kommt?
Nachdem in den letzten Jahrzehnten mehrere Versuche gescheitert sind, muss man auch diesmal skeptisch sein. Doch die Voraussetzungen für eine Beilegung sind derzeit günstig: Die PKK ist schwach, Öcalan hofft, freizukommen und Erdogan verspricht sich eigene Vorteile. Da kommt einiges zusammen, was eine Lösung ermöglichen könnte.
Was würde eine Einigung der türkischen Regierung mit der PKK bedeuten?
Das wäre eine historische Wende für die Türkei. Der Krieg zwischen dem türkischen Staat und der PKK dauert seit mehr als 40 Jahren an – zehntausende Menschen sind dabei ums Leben gekommen. Im Grunde genommen geht der Konflikt auf die Gründung der Türkischen Republik vor mehr als hundert Jahren zurück. Gelingt ein Frieden, wäre das für die Türkei also ein historischer Neuanfang.
Das Gespräch führte Dominik Rolli.