Bildung in Indien - Ein Lehrer für 120 Schülerinnen und Schüler
In keinem anderen Bundesland Indiens gibt es so viele Ein-Lehrer-Schulen wie in Jharkhand. Die staatlichen Schulen sind massiv unterfinanziert. Betroffen von den Sparmassnahmen sind vor allem Schülerinnen und Schüler aus armen, benachteiligten Familien. Die Chance, dass sie etwas lernen, ist klein.
Einige Schülerinnen und Schüler rennen ausserhalb des Schulgebäudes im Dorf Manika herum, andere sitzen auf Holzbänken oder am Boden in einem der Schulzimmer, schwatzen oder spielen.
Es ist kurz vor elf, die Schule hat offiziell vor zwei Stunden begonnen. Aber der Lehrer ist noch nicht aufgetaucht.
Auch Sangita sitzt auf einer Bank. Dass der Lehrer zu spät komme, sei normal, sagt die Achtklässlerin. «Manchmal kommt er um zehn und manchmal um elf», sagt sie. Und nach dem Mittagessen sei der Lehrer schnell wieder weg, berichten ihre Mitschülerinnen.
Trotzdem kommen die meisten der 120 Kinder – zwischen der ersten und achten Klasse – jeden Tag brav in die Schule.
Die Regierung stellt seit Jahren keine neuen Lehrkräfte ein
«Der Lehrer sagt uns, wir sollen das Schulbuch öffnen und ein Gedicht lesen», erzählt die Drittklässlerin Vanita. «Dann geht er wieder.» Sie verstehe höchstens die Hälfte.
Indische Regierungsstatistiken zeigen, dass in mehr als 7200 staatlichen Schulen im indischen Bundesstaat Jharkhand nur eine einzige Lehrperson unterrichtet – obwohl bis zu 150 Schülerinnen und Schüler eine Schule besuchen.
«Die Regierung stellt seit Jahren keine neuen Lehrer ein», sagt die Bildungsforscherin und Aktivistin Paran Amitava. Und wenn Lehrer, meistens sind sie männlich, pensioniert werden, würden sie nicht ersetzt. Darum gebe es jedes Jahr mehr Ein-Lehrer-Schulen.
Dabei ist das illegal. Das Gesetz schreibt vor, dass in indischen Primarschulen pro 30 Schülerinnen und Schülern mindestens eine Lehrperson unterrichten muss.
Betroffen sind vor allem arme, abgehängte Bevölkerungsschichten
Ein Grund für die riesigen Klassen seien zu niedrige Bildungsausgaben, sagt Amitava.
Aber es fehle auch der politische Wille, in dieser Gegend mehr Lehrerinnen und Lehrer einzustellen. Vermutlich auch deshalb, weil in Jharkhand vor allem unterprivilegierte Kinder auf die Regierungsschulen gingen, vermutet sie: Dalit, Adivasi und andere arme, wenig respektierte Bevölkerungsgruppen, die keine Stimme hätten und sich nicht wehrten. «Wenn sie reich und einflussreich wären, dann sähe es hier vermutlich anders aus», sagt Amitava.
Zurück auf dem Pausenplatz. Um kurz nach elf Uhr huscht ein Mann in gestreiftem Oberhemd in ein Nebengebäude. Es ist der Lehrer. Er ist zum Gespräch bereit, will aber seinen Namen nicht nennen, da er keinen Ärger mit der Regierung riskieren will.
Er würde sein Bestes geben, betont der Lehrer immer wieder. Aber es sei nicht möglich, sich als einzelne Lehrperson um so viele Schülerinnen und Schüler zu kümmern. Er müsse ja auch die ganze Bürokratie erledigen. Auf dem Tisch vor ihm stapeln sich Papier und Hefte.
Der Lehrer unterrichtet nur die Älteren – wenn überhaupt
Natürlich sei das nicht gut für die Kinder, sagt der Lehrer, der erst seit vier Monaten an der Schule unterrichtet und sein Gehalt nach eigenen Angaben nur unregelmässig bekommt. Er zum Beispiel würde nur die Älteren unterrichten. «Aber was kann ich machen?» Schon mehrfach habe er die Schulbehörde um drei weitere Lehrer gebeten. Auf die Antwort warte er immer noch. Die Schulbehörde wollte sich auf schriftliche und mündliche SRF-Anfrage nicht zu dem Thema äussern.
Entwicklungsökonom Jean Drèze: «Das ist ein Teufelskreis.»
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Jean Drèze, mehr als 7200 staatliche Primarschulen im indischen Bundesstaat Jharkhand haben nur einen Lehrer, obwohl die Schulen oft mehr als 100 Schülerinnen und Schüler haben. Ist Jharkhand die Ausnahme in Indien?
In Jharkhand ist die Situation sicher am extremsten, aber Jharkhand ist Ausdruck einer generellen Vernachlässigung der Primarschulbildung in Indien, die schon seit der Unabhängigkeit besteht. Man muss das vor dem Hintergrund verstehen, dass die Kinder privilegierter Eltern in Indien meistens in Privatschulen unterrichtet werden. Auf den staatlichen Schulen sind vor allem Kinder armer Eltern aus unteren Schichten. Das hat mit der traditionellen sozialen Ordnung in der Hindi-Gesellschaft zu tun, in der Bildung ein Privileg der oberen Kasten ist. Dieses Denken ist noch sehr verbreitet in der indischen Elite und unter Politikern. Arme Leute haben nichts zu sagen. Sie werden nur vor Wahlen interessant, wenn Politiker sie bestechen, um ihre Stimme zu bekommen. Bildung ist aber eine langfristige Investition.
Welche Zukunft haben Kinder, die nur eine staatliche Schule besuchen?
Die meisten Kinder, die diese nicht funktionierenden staatlichen Schulen besuchen, haben keine andere Zukunft als Armut. Sie sind dazu verdammt, sich später als ungelernte Tagelöhner durchzuschlagen, als Rikscha-Fahrer, Ziegel-Brennerin oder Bauarbeiter. Sie werden kaum in der Lage sein, an politischen Prozessen teilzunehmen, ihre Rechte zu verteidigen, sich um ihre Gesundheit zu kümmern.
Hat das auch Folgen für die gesamte Gesellschaft?
In der Entwicklungsökonomie haben wir in den letzten 20 Jahren gelernt, welche ungeheure Bedeutung eine solide Primarschulbildung für die Entwicklung eines Landes hat, für die wirtschaftliche Entwicklung, aber auch für soziale Gerechtigkeit, für Gesundheit, und die Demokratie. Der Preis für die mangelhafte Bildung und ein wachsendes Heer armer Menschen wird von der gesamten Gesellschaft gezahlt, nicht nur von den betroffenen Kindern und ihren Familien. Das ist ein Teufelskreis. Die wenigen Bundesländer Indiens, die früh genug in Bildung investiert haben, wie Kerala oder Tamil Nadu, haben sehr davon profitiert: Die Leute dort haben eine längere Lebenserwartung, einen besseren Lebensstandard, bessere staatliche Dienstleistungen. Darum lohnt es sich für einen Staat, in Bildung zu investieren.
Das Ergebnis der Ein-Lehrer-Politik zeigt sich im Klassenzimmer. Dort sitzt Sandeep, ein Sechstklässler, der den Lehrer heute noch nicht gesehen hat. Seinen Namen kann Sandeep nicht schreiben. Mit dem Buchstabieren tut er sich schwer. Auch einfache Rechenaufgaben bereiten ihm Mühe. Fünf plus sechs? Bei ihm ergibt das Sieben.
Ein paar Bänke weiter hat der 14-jährige Santosh keine Mühe mit den Aufgaben. Die Erklärung liefert er selbst: Santosh war auch an diesem Morgen von 5 bis 9 Uhr früh bei einem privaten Nachhilfelehrer im Nachbardorf. Er ist der Star im Klassenzimmer.
«Nur mit diesem Coaching bestehe ich die Examen», sagt der Bauernsohn, der später einmal zur Armee will. In die Staatsschule kommt er trotzdem jeden Tag. Später wird Santosh die Jüngeren unterrichten, die der Lehrer vernachlässigt.
Wenigstens das Alphabet sollten sie lernen, meint Santosh. Für Sandeep, den Sechtklässler, und viele anderer seiner Schulkolleginnen und -kollegen, ist es dafür vermutlich schon zu spät.
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