Einige Schülerinnen und Schüler rennen ausserhalb des Schulgebäudes im Dorf Manika herum, andere sitzen auf Holzbänken oder am Boden in einem der Schulzimmer, schwatzen oder spielen.
Es ist kurz vor elf, die Schule hat offiziell vor zwei Stunden begonnen. Aber der Lehrer ist noch nicht aufgetaucht.
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Bild 1 von 3. Schülerinnen und Schüler in einem Schulzimmer. Bildquelle: SRF/Maren Peters.
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Bild 2 von 3. Die Kinder kommen jeden Morgen um neun Uhr. Der Lehrer taucht gegen elf Uhr auf. Bildquelle: SRF/Maren Peters.
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Bild 3 von 3. Schulkinder vor dem Schulgebäude: Weil der Lehrer nicht da ist, gehen sie spielen. Bildquelle: SRF/Maren Peters.
Auch Sangita sitzt auf einer Bank. Dass der Lehrer zu spät komme, sei normal, sagt die Achtklässlerin. «Manchmal kommt er um zehn und manchmal um elf», sagt sie. Und nach dem Mittagessen sei der Lehrer schnell wieder weg, berichten ihre Mitschülerinnen.
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Bild 1 von 4. Sangita kommt jeden Morgen adrett in Schuluniform in die Schule. Sie wäre bereit für den Unterricht, doch der Lehrer ist dann noch nicht da. Bildquelle: SRF/Maren Peters.
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Bild 2 von 4. Schule in Manika: Die Kinder sind da, der Lehrer nicht. Bildquelle: SRF/Maren Peters.
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Bild 3 von 4. Ein kleines Mädchen spielt Schule. Bildquelle: SRF/Maren Peters.
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Bild 4 von 4. Jeden Tag müssen sich die Schülerinnen und Schüler registrieren. Eigentlich wäre das die Aufgabe des Lehrers. Bildquelle: SRF/Maren Peters.
Trotzdem kommen die meisten der 120 Kinder – zwischen der ersten und achten Klasse – jeden Tag brav in die Schule.
Die Regierung stellt seit Jahren keine neuen Lehrkräfte ein
«Der Lehrer sagt uns, wir sollen das Schulbuch öffnen und ein Gedicht lesen», erzählt die Drittklässlerin Vanita. «Dann geht er wieder.» Sie verstehe höchstens die Hälfte.
Indische Regierungsstatistiken zeigen, dass in mehr als 7200 staatlichen Schulen im indischen Bundesstaat Jharkhand nur eine einzige Lehrperson unterrichtet – obwohl bis zu 150 Schülerinnen und Schüler eine Schule besuchen.
«Die Regierung stellt seit Jahren keine neuen Lehrer ein», sagt die Bildungsforscherin und Aktivistin Paran Amitava. Und wenn Lehrer, meistens sind sie männlich, pensioniert werden, würden sie nicht ersetzt. Darum gebe es jedes Jahr mehr Ein-Lehrer-Schulen.
Dabei ist das illegal. Das Gesetz schreibt vor, dass in indischen Primarschulen pro 30 Schülerinnen und Schülern mindestens eine Lehrperson unterrichten muss.
Betroffen sind vor allem arme, abgehängte Bevölkerungsschichten
Ein Grund für die riesigen Klassen seien zu niedrige Bildungsausgaben, sagt Amitava.
Aber es fehle auch der politische Wille, in dieser Gegend mehr Lehrerinnen und Lehrer einzustellen. Vermutlich auch deshalb, weil in Jharkhand vor allem unterprivilegierte Kinder auf die Regierungsschulen gingen, vermutet sie: Dalit, Adivasi und andere arme, wenig respektierte Bevölkerungsgruppen, die keine Stimme hätten und sich nicht wehrten. «Wenn sie reich und einflussreich wären, dann sähe es hier vermutlich anders aus», sagt Amitava.
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Bild 1 von 2. Vor der Schule: Das Dorf Manika liegt abgelegen im indischen Bundesstaat Jharkhand. Hier wohnen viele Arme, aus unteren Kasten. Bildquelle: SRF/Maren Peters.
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Bild 2 von 2. Das Dorf ist arm. Es gibt nur eine Wasserpumpe für alle. Bildquelle: SRF/Maren Peters.
Zurück auf dem Pausenplatz. Um kurz nach elf Uhr huscht ein Mann in gestreiftem Oberhemd in ein Nebengebäude. Es ist der Lehrer. Er ist zum Gespräch bereit, will aber seinen Namen nicht nennen, da er keinen Ärger mit der Regierung riskieren will.
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Bild 1 von 2. Der Pausenplatz der Schule in Manika. Bildquelle: SRF/Maren Peters.
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Bild 2 von 2. Im Lehrerzimmer gibt es fast keinen freien Platz mehr. Überall stapeln sich Unterrichtsmaterialien und Dokumente. Bildquelle: SRF/Maren Peters.
Er würde sein Bestes geben, betont der Lehrer immer wieder. Aber es sei nicht möglich, sich als einzelne Lehrperson um so viele Schülerinnen und Schüler zu kümmern. Er müsse ja auch die ganze Bürokratie erledigen. Auf dem Tisch vor ihm stapeln sich Papier und Hefte.
Der Lehrer unterrichtet nur die Älteren – wenn überhaupt
Natürlich sei das nicht gut für die Kinder, sagt der Lehrer, der erst seit vier Monaten an der Schule unterrichtet und sein Gehalt nach eigenen Angaben nur unregelmässig bekommt. Er zum Beispiel würde nur die Älteren unterrichten. «Aber was kann ich machen?» Schon mehrfach habe er die Schulbehörde um drei weitere Lehrer gebeten. Auf die Antwort warte er immer noch. Die Schulbehörde wollte sich auf schriftliche und mündliche SRF-Anfrage nicht zu dem Thema äussern.
Das Ergebnis der Ein-Lehrer-Politik zeigt sich im Klassenzimmer. Dort sitzt Sandeep, ein Sechstklässler, der den Lehrer heute noch nicht gesehen hat. Seinen Namen kann Sandeep nicht schreiben. Mit dem Buchstabieren tut er sich schwer. Auch einfache Rechenaufgaben bereiten ihm Mühe. Fünf plus sechs? Bei ihm ergibt das Sieben.
Ein paar Bänke weiter hat der 14-jährige Santosh keine Mühe mit den Aufgaben. Die Erklärung liefert er selbst: Santosh war auch an diesem Morgen von 5 bis 9 Uhr früh bei einem privaten Nachhilfelehrer im Nachbardorf. Er ist der Star im Klassenzimmer.
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Bild 1 von 3. Santosh ist der Star der Schule. Er nimmt private Nachhilfestunden. Sonst könne er das Examen nicht bestehen, sagt er. Bildquelle: SRF/Maren Peters.
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Bild 2 von 3. Santoshs Vater ist ein einfacher Bauer. Trotzdem geht er manchmal in die Schule, um zu unterrichten, weil der Lehrer nicht da ist. Bildquelle: SRF/Maren Peters.
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Bild 3 von 3. Dieser Vater aus dem Dorf Manika will seinen dreijährigen Sohn später aufs Internat schicken: In der Dorfschule lerne er nichts. Bildquelle: SRF/Maren Peters.
«Nur mit diesem Coaching bestehe ich die Examen», sagt der Bauernsohn, der später einmal zur Armee will. In die Staatsschule kommt er trotzdem jeden Tag. Später wird Santosh die Jüngeren unterrichten, die der Lehrer vernachlässigt.
Wenigstens das Alphabet sollten sie lernen, meint Santosh. Für Sandeep, den Sechtklässler, und viele anderer seiner Schulkolleginnen und -kollegen, ist es dafür vermutlich schon zu spät.