Seit dem Tod von George Floyd wird in den USA so intensiv über Rassismus debattiert wie letztmals in den 1950er- und 1960er-Jahren während der Bürgerrechtsbewegung. Zu den Aktivistinnen von damals gehört auch Jane Elliott. Die Primarschullehrerin aus dem ländlichen Bundesstaat Iowa sorgt 1968 mit einem Experiment unter dem Titel «Blue Eyes, Brown Eyes» weltweit für Furore.
Sie teilt dabei ihre Klasse in zwei Gruppen ein, die Blau- und die Braunäugigen. Sie bevorzugt erstere und diskriminiert letztere, um den Kindern zu zeigen, wie sich Rassismus anfühlt (Anm. d. Red: Im späteren Verlauf des Experiments tauschten die Gruppen die Rollen). Leider sei diese Schocktherapie heute noch immer nötig, sagt Jane Elliott.
Ein Schul-Experiment wühlt das Land auf
Die Idee zu «Blue Eyes, Brown Eyes» hat Jane Elliott am 4. April 1968, am Tag, als Martin Luther King ermordet wird. Sie fragt sich: Wie soll ich am nächsten Tag mit meinen Drittklässlern darüber sprechen?
Ich habe beobachtet, wie die sonst wundervollen Kinder meiner Klasse in nur 15 Minuten zu fiesen, boshaften kleinen Drittklässlern wurden.
«Ich wusste, dass ich dieses Mal konkret werden musste und nicht bloss weiter darüber reden konnte. Denn geredet hatten wir über Rassismus bereits seit dem ersten Schultag», erinnert sich die heute 87-Jährige.
Nicht reden, handeln, sagt sie sich also. Am nächsten Morgen startet sie ein Experiment, um den Kindern vor Augen zu führen, wie sich Rassismus anfühlt. Zwei Jahre später wird das Experiment gefilmt, der Dokumentarfilm sorgt für grossen Wirbel im ganzen Land.
«Brown Eye» wird zum Schimpfwort
Blauäugige seien bessere Menschen, erklärt Jane Elliott ihren Drittklässlern bei dem Experiment. Blaue Augen würden mehr Licht durchlassen und das wirke sich positiv aufs Gehirn aus. «Blauäugige Menschen sind deshalb intelligenter als braunäugige, sie sind sauberer und zivilisierter», gaukelt Elliott den Kindern vor.
Die Kinder mit blauen Augen machen sofort mit: Bald hänseln sie ihre braunäugigen Kameraden, grenzen sie aus beim Spiel in der Pause. «Brown Eye» wird zum Schimpfwort. In nur 15 Minuten verändern sie ihr Verhalten: «Ich habe beobachtet, wie die sonst wundervollen, bedachten Kinder meiner Klasse in nur 15 Minuten zu fiesen, boshaften, diskriminierenden kleinen Drittklässlern wurden», so Elliott.
Auswirkung auf das Selbstvertrauen
Die braunäugigen Kinder sind schon bald verzweifelt, trauen sich aber nicht aufzumucken. Jane Elliott führt mit beiden Gruppen einen Test mit Rechen-Aufgaben durch: Blauäugige Schüler, die sonst Mühe haben mit Rechnen, brillieren plötzlich, braunäugige Musterschülerinnen hingegen versagen. Sie führt das Experiment in den nächsten Jahren immer wieder durch, stets mit gleichen Resultaten.
Was die braunäugigen Kinder erlebten, ist das, was Menschen mit dunkler Hautfarbe angetan wird.
Heute ist Jane Elliott fest überzeugt: Wer ständig herabgesetzt wird, verliert das Selbstvertrauen und fügt sich in die zugewiesene Rolle. Was die braunäugigen Kinder in ihrer Klasse erlebten, sei das, was Menschen mit dunkler Hautfarbe angetan werde.
Der rassistischen Vergangenheit stellen
Die Bevölkerung von Riceville, Iowa, reagiert Ende der 1960er-Jahre mit Entsetzen und rassistischen Sprüchen auf das Experiment von Jane Elliott: «Sie sagten: Ich weiss nicht, warum sie sich über Rassismus in Riceville aufregt, wir haben hier keinen Rassismus – wir haben keine ‹Nigger› hier. Das war das Wort, das sie brauchten!»
Freunde und Nachbarn brechen den Kontakt zu ihr ab, selbst ihre Kinder werden bespuckt und ausgegrenzt. Im Lehrerzimmer rät man ihr: Tu das nicht mehr, lass die Vergangenheit ruhen, blicke nach vorne.
Es gibt nur eine Rasse – die menschliche Rasse.
Solange sich das Land nicht seiner rassistischen Vergangenheit stelle, würden die alten Fehler wiederholt, sagt Jane Elliott noch immer mit Bestimmtheit. Aber leider müsse man die Leute auch heute wieder daran erinnern, dass es nur eine Rasse gebe: die menschliche Rasse.
«Der einzige Grund, warum wir weisse Haut haben, ist die natürliche Reaktion unserer Haut auf die Umwelt. Kommt darüber hinweg, Leute!», betont die pensionierte Lehrerin.
Schockexperiment noch immer nötig
Elliott führte jahrelang Workshops durch und sogenannte «diversity trainings», auch mit Erwachsenen. Der Film über ihr Experiment aus den 1960er-Jahren zirkuliert heute wieder auf den sozialen Medien.
Müsste man das Experiment von damals auch noch heute durchführen? «Oh my Lord, Ja, unbedingt!», ruft Elliott. Nach der Wahl von Barack Obama zum US-Präsidenten habe sie geglaubt, das Land sei auf dem richtigen Weg. Aber sie habe die Wut vieler Weisser unterschätzt.
Die Lüge der weissen Überlegenheit wird heute wieder täglich verbreitet.
Und jetzt stelle Donald Trump sicher, dass die Lüge der weissen Überlegenheit noch immer täglich verbreitet werde. Dass seit dem Tod von George Floyd jetzt so viele Junge gegen Rassismus protestierten, auch die Kinder ihrer damaligen Drittklässler, erfülle sie aber mit Dankbarkeit: «Heute beteiligen sich so viele Weisse an den Protesten der Schwarzen wie nie zuvor.» Dafür verantwortlich sei Donald Trump. Er wirke wie ein Spiegel, in dem viele Weisse ihre eigene bisherige Ignoranz wieder erkannten.
Die Zeit, in der die Weissen ihre eigene Vorstellung vom Zusammenleben rücksichtslos durchsetzen konnten, sei vorbei. Was derzeit passiere, ist Jane Elliott überzeugt, sei das nahende Ende des Anspruchs auf weisse Vorherrschaft.