Seit dem Tod von George Floyd erleben die USA die schwersten Unruhen seit den 1960er Jahren. Es geht um Rassismus, verarmte Städte, zerrüttete Familien und Waffengewalt. Der Sozialarbeiter Rashid Abdullah erzählt, wie die «Normalität» vieler schwarzer Jugendlicher aussieht.
SRF News: Warum gibt es so viel Gewalt gegen Schwarze in Amerika?
Rashid Abdullah: Natürlich hat es mit unserer Geschichte und unserer Präsenz zu tun – von der Sklaverei bis zur Befreiung und der Bürgerrechtsbewegung. Und unserem Versuch, zu Amerika zu gehören. Es gab schon immer jene, denen es nicht passte, dass ihre ehemaligen Diener ihnen jetzt gleichgestellt sind.
Wo Sie arbeiten, gibt es viele, die viel weniger verdienen als weisse Amerikaner. Wie kommt es zu dieser wirtschaftlichen Kluft?
Man hat uns die versprochene Starthilfe nie gegeben: das versprochene «Stück Land und das Maultier». Seit wir frei sind, sind wir verschuldet. Die meisten immer noch. Es wird keine Gleichheit geben, bis auch Afroamerikaner Land und Firmen besitzen. Wenn du ständig verschuldet bist, ist das schwierig zu erreichen. Es fängt mit unseren Schulen an: Im Vergleich zu anderen Gebieten haben wir keine Computer. Wir haben die Dinge nicht, die es braucht, um diesen Kindern zu helfen.
Wie stoppen Sie Kinder, die mit 10 Jahren eine Waffe kaufen?
Wir haben es hier mit einer anderen Realität zu tun. Was für Sie und mich normal ist, ist nicht normal für diese Kids. Seit sie Kinder sind, erleben sie Schiessereien. Schon in jungen Jahren besuchen Sie Beerdigungen, nicht jene der Grosseltern, sondern von Freunden und Kindern ihres Alters.
Der Tod gehört zu ihrem Leben. Das Gefängnis gehört zu ihrem Leben: Man kann diesen jungen Menschen nicht mit Haft drohen, denn das Gefängnis ist für viele ein Übertrittritual ins Erwachsenenleben. Das muss man anerkennen und fragen: Wollt ihr wirklich eine Zukunft? Dann zeige ich ihnen eine auf. Manchmal muss ich das mehrmals tun, bevor sie zuhören. Aber zumindest kann ich ihnen einen Lebensentwurf aufzeigen.
Es ist schwierig nachzuvollziehen, wie verzweifelt ein Kind sein muss, dass es beginnt, mit Drogen zu handeln.
Die meisten dieser Kinder werden in extrem arme Familien hineingeboren. Sie werden von alleinerziehenden Müttern mit vielen Kindern aufgezogen. Sie haben ein sehr schwieriges Leben. Die Kids sehen Schiessereien, Morde und Drogenhandel. Sie haben fast nichts, wissen aber: Ich kann immer Drogen verkaufen.
Das Schulsystem kann nicht mit den Herausforderungen und Problemen dieser Jugendlichen umgehen. Die meisten fliegen als junge Teenager von der Schule. Eines der grössten Probleme in Cincinnati, Ohio, aber auch im ganzen Land, ist die Obdachlosigkeit von Kindern und Jugendlichen.
Sie selber haben sehr viele Schwierigkeiten überwunden. Helfen Ihnen diese geteilten Erfahrungen?
Durch meine eigene Vergangenheit bin ich glaubwürdig für diese Kids. Ich war selber dort, wo sie jetzt sind. Darum kann ich sie auf einer anderen Ebene erreichen, andere Gespräche mit ihnen führen. Ich verurteile sie nicht, sondern versuche sie Schritt für Schritt in eine neue Realität zu führen.
Wird der Tod von George Floyd etwas verändern oder wird das Video seiner Verhaftung wieder aus dem Bewusstsein der Menschen verschwinden?
Nein, das geht nicht mehr weg, das kann ich Ihnen versichern. Dieses Video sah man auf der ganzen Welt. Überall nehmen Leader den Namen George Floyds in den Mund. Der Druck aus anderen Ländern zwingt Amerika dazu, sich selber sehr genau anzuschauen.
Das Gespräch führte Peter Hossli.