Aus einer Schule im nigerianischen Chibok wurden 2014 fast 300 Mädchen von der Terrormiliz Boko Haram entführt. Nach über 3 Jahren Gefangenschaft werden 107 Mädchen wieder freigelassen. Die Geschichte von Chibok hat die Gesellschaft in Nigeria verändert, meint Stefan Klein, der mit drei der freigelassenen Mädchen sprechen konnte.
SRF News: Warum waren Sie von den Schilderungen der Mädchen überrascht?
Stefan Klein: Mich hat überrascht, dass sich diese Entführung offenbar ganz anders zugetragen hat, als man das landläufig annehmen würde. Die Entführer haben sich sehr viel Zeit gelassen. Zum Schluss, als sie die Mädchen aufgefordert haben, sich am Eingangstor der Schule einzufinden, haben Sie das Ganze noch gefilmt. Das war ungefähr so, als würde man den Beginn eines Schulausflugs dokumentieren wollen.
Boko Haram fühlte sich also sicher. Was sagt das über die nigerianischen Sicherheitskräfte aus?
Das sagt vor allem etwas über die Stärke von Boko Haram aus. Und es zeigt die Schwäche des nigerianischen Staates, vor allem der nigerianischen Armee. Das Militärbudget stellt jedes Jahr einen der grössten Posten im nigerianischen Bundeshaushalt dar, bei der kämpfenden Truppe aber kommt davon sehr wenig an. Vor allem die Generäle, von denen es in der nigerianischen Armee überdurchschnittlich viele gibt, nutzen jede Gelegenheit, Gelder abzuzweigen und in die eigene Tasche umzuleiten. Da bleibt für die Leute an der Front so gut wie nichts mehr übrig.
Nach der Entführung passierte etwas Bemerkenswertes: Es gab ein Aufbäumen der Zivilgesellschaft, eine Gruppe von Aktivistinnen formierte sich mit der klaren Forderung, die Mädchen nach Hause zu bringen. Was zeichnet diese Bewegung aus?
Diese Bewegung ist ein hoffnungsvolles Zeichen für die nigerianische Demokratie, welche schwach ausgeprägt ist. Die Zivilgesellschaft wird lauter und mutiger.
Ein gutes Beispiel ist die Gruppe «BBOG», also «Bring Back Our Girls». Das sind Frauen und Männer, die sich gleich nach der Entführung zusammengefunden haben und sich seither jeden Tag in der Hauptstadt Abuja treffen, um zu zeigen, dass man für die Mädchen da ist.
Bringt das etwas?
Der Druck der Bewegung hat dazu geführt, dass sich die Regierung zweimal dazu bereit erklärt hat, einen Austausch von Mädchen gegen Boko-Haram-Kämpfer stattfinden zu lassen. Ohne den Druck von der Strasse hätte dieser Austausch nicht stattgefunden.
Die Mädchen aus Chibok haben in gewisser Weise von ihrem «Promistatus» profitiert.
Manche der Mädchen sind freigekommen. Die Regierung versprach ihnen medizinische Hilfe, psychologische Betreuung sowie gute Bildung. Wurden diese Versprechen eingehalten?
In diesem Fall wurden sie tatsächlich eingehalten. Die Regierung wollte sich mit dem Erfolg dieser Freilassung von über hundert Mädchen schmücken. Die Mädchen bekommen bis zum heutigen Tag psychologische Hilfe. Wenn «normal» Gefangene von Boko Haram freikommen oder flüchten, landen sie normalerweise in einem Elendslager, wo sich kaum einer um sie kümmert. Die Mädchen aus Chibok haben in gewisser Weise von ihrem «Promistatus» profitiert.
Wie nachhaltig war die Aktion der Zivilgesellschaft?
Es wirkt nach. Andere Gruppen haben sich inzwischen gebildet und kopieren den Singsang der «BBOG-Gruppe»: Dort heisst es jeweils zu Beginn «What are we demanding?», dann heben die anderen die Faust und rufen «Bring Back Our Girls». Diesen Slogan hören wir nun auch bei anderen Gruppen. Das zeigt, dass diese Aktivistengruppe Schule gemacht hat und dass die Zivilgesellschaft stärker und mutiger wird.