Am 1. Januar wird Luis Inacio «Lula» da Silva als neuer Präsident Brasiliens vereidigt. Keine einfache Angelegenheit, denn das Land ist tief gespalten. Die Stichwahl gegen den aktuellen Amtsinhaber Jair Bolsonaro hat Lula nur knapp gewonnen und das Parlament ist so konservativ wie seit Jahrzehnten nicht mehr. Der deutsch-brasilianische Politikwissenschafter Oliver Stuenkel erklärt die Herausforderungen von Lula.
SRF News: Wie unterscheidet sich denn die Situation heute mit jener vor 20 Jahren?
Oliver Stuenkel: Brasilien ist gespalten, die wirtschaftliche Lage ist sehr viel schwieriger. Das Land war vor 20 Jahren durch den Rohstoffboom relativ einfach zu regieren. Dadurch herrschte in ganz Lateinamerika politische Stabilität, als Lula nach acht Jahren als Präsident das Amt verlassen hat.
In den Bereichen Bildung, Kampf gegen die Ungleichheit und Armut, steht das Land heute sehr viel schlechter da.
Das ist heute aufgrund der extremen Polarisierung des Landes nicht mehr denkbar. In den Bereichen Bildung, Kampf gegen die Ungleichheit und Armut, steht das Land heute sehr viel schlechter da. Deshalb ist die Herausforderung für Lula heute sicher grösser als vor 20 Jahren.
Lula hat bereits die Regierungsmannschaft vorgestellt, mit der er diesen Herausforderungen begegnen will. Welche Schlüsse lassen sich aus diesen Personalien ziehen?
Ich denke, es wird eine recht zentristische, doch orthodoxe Regierung sein, denn Lula hat während der Wahl stark an Wähler appelliert, die noch nie die Arbeiterpartei gewählt haben. Sein Vizepräsident ist ein Konservativer und die Koalition, die er während der Wahl aufgebaut hat, wird sich auch in dem Regierungsstil widerspiegeln. Das bedeutet viel Pragmatismus, Konsens und nicht eine radikalisierte Regierung.
Die Arbeiterpartei hat 79 von 500 Sitzen im Parlament. Auch in den nächsten Jahren wird es wichtig sein, mit anderen Parteien zusammen zu regieren. Sind die Anhänger von Jair Bolsonaro auch bereit, auf Lula zuzugehen?
In Brasilien ist die Situation ähnlich wie in den USA. Ein Teil der Bolsonaro Wählenden wird die Legitimität Lulas nicht akzeptieren. Aber ich glaube auch, dass ein recht grosser Teil der Bolsonaro Wählerschaft auch sehen wird, dass viele der Befürchtungen von Bolsonaro in der Regel Falschinformationen waren. Es handelt sich hier nicht um eine Regierung, die das Venezuela-Modell nachahmen möchte.
Lula da Silva übernimmt das Amt mitten in einer Zeit der Staatstrauer wegen des Tods von Fussballer Pelé. Welche Rolle kann das beim Amtsübergang spielen?
Pelé war unheimlich wichtig, um das Land zu einen. Er war auch im öffentlichen Diskurs sehr präsent. Das hat vielleicht auch zur Folge, dass in diesen wenigen Tagen vor der Amtseinführung das Land etwas zusammenrückt.
Ist das auch ein Ausblick auf die Amtszeit von Lula, mit leichtem Optimismus voraus auf diese neue Regierung?
Die internationale Gemeinschaft will Brasilien als aktiven Teilnehmer in der globalen Debatte haben. Jetzt muss man sehen, inwieweit die neue Regierung in der Lage ist, das Land wirtschaftlich zu stabilisieren. Die Demokratie kann nur an Stabilität gewinnen, wenn die Menschen auch sehen, dass es wirtschaftlich vorangeht. Nach zehn Jahren ohne Wirtschaftswachstum werden schnelle Erfolge von Lula ganz wichtig sein. Wenn er das schafft, bin ich auch ganz optimistisch, dass die politische Lage im Land sich wieder normalisiert.
Das Gespräch führte Christina Scheidegger.