Die Entscheidung über den Brexit ist – einmal mehr – vertagt worden. Das britische Unterhaus verschiebt seine Zustimmung zum neuen Scheidungsvertrag von Premierminister Boris Johnson auf nächste Woche. Der Grund: Abgrundtiefes Misstrauen gegen die wahren Absichten der Regierung.
Ein Zusatz, der es in sich hat
Die Regierung Johnson hatte die aussergewöhnliche Samstags-Sitzung des Unterhauses als Ende und Neubeginn verkauft. Doch der konservative Ex-Minister Oliver Letwin unterbreitete einen Zusatz, der mit 16 Stimmen Vorsprung angenommen wurde: demnach kann das Parlament dem neuen Vertrag erst zustimmen, wenn die nötige Ausführungsgesetzgebung rechtsgültig verabschiedet und verankert ist.
Letwin befürchtet nämlich, dass hart gesottene, konservative Brexit-Anhänger dem Vertrag zum Schein zustimmen könnten, nur um dann die Ausführungsgesetze zu sabotieren. In diesem Szenario könnte das Königreich Ende Oktober ohne Vertrag aus der EU kippen.
Der ominöse Brief
Nachdem Letwins Zusatz – mit den ausschlaggebenden Stimmen der nordirischen DUP – gebilligt war, wurde der Rest der Tagesordnung zur Makulatur. Konservative Abgeordnete wollten die Kammer verlassen. Es bleibt demnach offen, ob es eine Mehrheit im Unterhaus für Johnsons Vereinbarung mit der EU gibt. Die Signale während der heutigen Debatte deuten indessen darauf hin.
Die Weigerung des Parlaments, heute Stellung zu beziehen, zwingt Premierminister Johnson, die EU doch noch um eine Verschiebung des Austrittsdatums zu bitten. Das hat er – im Widerspruch zur Rechtslage – im Anschluss an seine heutige Niederlage von sich gewiesen, aber es bleibt ihm wohl keine Wahl.
Aufgeschoben oder aufgehoben?
Die Regierung plant nun offenbar, die Ausführungsgesetzgebung nächste Woche vorzulegen. Dann wird sich weisen, ob sie die erwartete Mehrheit findet.
Der Hintergedanke von Johnsons Widersachern mag durchaus sein, dass sie ihn während einer verlängerten EU-Mitgliedschaft in eine Neuwahl drängen wollen. Dann müsste er sich gegen die Vorwürfe der Brexit-Partei von Nigel Farage wehren, die Konservativen seien ausserstande, den Brexit jemals durchzusetzen.
Denkbar – wenn auch derzeit nicht sehr plausibel – ist überdies ein zweites Referendum, wie es heute von unzähligen Demonstranten in London verlangt wird, um den Brexit gegenstandslos zu machen.
Abgrundtiefes Misstrauen
Die neueste Wendung im Brexit-Drama illustriert das abgrundtiefe Misstrauen, das der Regierung Johnson entgegenschlägt, der allerlei Tricks zugeschrieben werden. Die Labour-Opposition unterstellt ihr, sie wolle anstelle eines neuen Handelsvertrags mit der EU bloss die Übergangsperiode verstreichen lassen, um an deren Ende, am 1. Januar 2021, doch noch ungeordnet auszuscheiden.
Falls die EU einen Aufschub gewährt, kann dieser jederzeit beendet werden, sobald die Briten und das Europäische Parlament den «Deal» ratifiziert haben. Allein, ohne unmittelbaren Zeitdruck mögen sich jene Labour-Abgeordneten, die Boris unterstützen wollten, ihren Seitenwechsel nochmals überlegen – Brexit geht erneut in die Verlängerung.