Nach einem Jahr Krieg in der Ukraine schaut Bundesrat Cassis zurück. Warum die Schweizer Neutralität trotz ihrer Kritik einen Mehrwert für andere Länder bieten kann, erklärt er im Interview.
SRF News: Herr Bundesrat Cassis, wenn Sie auf dieses Kriegsjahr zurückschauen, welche Bilder haben sich Ihnen eingeprägt?
Ignazio Cassis: Mit Sicherheit der erste Tag, als ich im Fernsehen diese russische Aggression gesehen haben, mit der Kilometer langen Kolonne von Panzern. Das habe ich so noch nie gesehen. Und ich habe befürchtet, was das für Konsequenzen gibt.
Militärisch neutral zu sein, ist durchaus kompatibel mit dieser Wertegemeinschaft.
Wie soll die Schweizer Neutralität in Zukunft aussehen? Ist das eine unangefochtene Überlebensgarantie, ein Auslaufmodell oder ein wandlungsfähiges Instrument?
Die Schweizer Neutralität ist immer noch sehr aktuell. Sie hat uns gut geschützt während 200 Jahren, aussenpolitisch sowie sicherheitspolitisch. Und sie tut es auch heute noch. Vor allem erlaubt sie uns, eine besondere Rolle zu spielen: die Rolle der Diplomatie, des internationalen Genf, der Brückenbauer. Und da können wir einen Mehrwert für alle anderen Ländern anbieten.
Wir wollen Teil sein einer westlichen Wertegemeinschaft und gleichzeitig stehen wir auf die Bremse, wenn es um die Munition für diesen Krieg geht. Wie kann man diesen Spagat schaffen?
Wir sind Teil einer Wertegemeinschaft, das steht so in unserer Verfassung. Und das ist der Grund, warum wir auch die EU-Sanktionen übernommen haben. Aber militärisch neutral zu sein, ist durchaus kompatibel mit dieser Wertegemeinschaft.
Trotzdem stösst es im Ausland je länger je mehr auf Unverständnis. Müsste da nicht etwas geschehen?
Das erzählt man immer wieder. Ich spüre es aber nicht in meinen Gesprächen mit Aussenministern, mit Regierungschefs letztes Jahr als Bundespräsident. Sie wissen ganz genau, was die Schweizer Neutralität ist und dass es auch für sie ein Mehrwert ist. Dennoch ist es unbequem, neutral zu sein in einem Moment, wo alle nur in eine Richtung gehen wollen. Beispielsweise bei den Waffenlieferungen. Wir können der Ukraine stark helfen, auch ohne Waffen und Truppen.
Jeder Krieg endet mit einer diplomatischen Lösung.
Tut die Schweiz tatsächlich genug oder müssen wir uns einmal vorwerfen lassen, wir haben nicht genug getan?
Also vor einer so grossen Tragödie, bei so vielen Millionen, die leiden, ist es a priori ungenügend. Die ganze Weltgemeinschaft tut es ungenügend. Dennoch, wir tun viel. Alle und auch die Schweiz. Ich werde nicht rot, wenn ich die Schweiz im Ausland vertrete. Und ich bekomme auch viele Dankesworte für das, was die Schweiz tut in der Diplomatie, für den Wiederaufbau und in der humanitären Assistenz.
Nichts deutet im Moment auf eine Deeskalation hin. Wie sicher ist Europa und auch die Schweiz?
Tatsächlich ist die heutige militärische Lage schwierig. Noch ist kein Ende in Sicht für diesen Krieg. Wir wissen, dass es am Schluss immer eine politische Lösung sein wird. Wir arbeiten Tag für Tag, Nacht für Nacht an einer solchen Lösung. Ich reise selber heute noch nach New York, um morgen und übermorgen an der Generalversammlung der UNO und im UNO-Sicherheitsrat diese Diskussionen mit den Kollegen zu führen.
Auch wenn wir alle nicht wissen, wann oder wie dieser Krieg enden könnte. Aber dennoch: Welche Optionen gibt es noch?
Jeder Krieg endet mit einer diplomatischen Lösung. Also geht es um suchen, suchen und nochmals suchen und nie aufhören, bis wir den Durchbruch erreichen.
Was sehen Sie als nächste Schritte vor?
Wir haben beispielsweise viele wichtige Gespräche, die wir in der Schweiz führen. Zudem sind wir mit anderen Ländern in Diskussionen, um die eine und andere Seite etwas näherzubringen.
Militärisch sind und bleiben wir neutral.
Wir sind auch von der Ukraine beauftragt worden, in Russland ein Schutzmacht-Mandat zu fragen. Es ist eine Palette von Mehrwert – kleinere Massnahmen – die aber gemeinsam doch eine Differenz machen können.
Was denken Sie, wie lange kann die Schweizer Neutralität noch strapaziert werden?
Die Schweiz ist seit über 200 Jahren neutral. Neutral heisst: militärisch neutral, nicht neutral in den Werten. Militärisch sind und bleiben wir neutral. Wir haben diese russische Aggression klar verurteilt, aber dass wir keine Waffen und keine Truppen liefern, das ist eine Besonderheit der Schweiz. Die Regierung hat dies vertieft, geprüft und ist zu diesem klaren Schluss gekommen.
Dafür dienen wir der internationalen Gemeinschaft mit anderen Instrumenten, mit der Diplomatie, mit dem internationalen Genf, mit der humanitären Tradition der Schweiz. Das ist breit anerkannt, und das ist auch im Sinne der anderen Länder. Dieser Krieg wird nur aufhören, wenn die internationale Gemeinschaft mit den zwei Ländern, Russen und Ukrainern eine Lösung gemeinsam findet. Und die wird eine diplomatische Lösung sein.
Das Gespräch führte Adrian Lemmenmeier.