Die Abendsonne scheint, es ist angenehm warmes Frühsommerwetter. Die Vögel zwitschern. Auf dem breiten Trottoir spielen zwei Kinder mit ihrem Skateboard. Die Durchsagen der sprechenden Verkehrsampeln sind zu hören.
Die grosse Strassenkreuzung mitten im Stadtzentrum der Millionenmetropole Schanghai ist leer – und das kurz nach 18 Uhr an einem Arbeitstag, wo sich normalerweise der Verkehr staut und Passanten aneinander vorbeidrängeln.
Stattdessen: Abgedunkelte Luxus-Boutiquen mit Schaufensterpuppen, die mit ihren leeren Gesichtern auf die Strasse schauen, als hätten sie das Warten auf Kundschaft schon längst aufgegeben.
Versiegelte Geschäfte
Ich spaziere entlang von Geschäften, deren Eingangstüren versiegelt sind mit Klebern der amtlichen Seuchenkontrolle. Plötzlich ist gar niemand mehr zu sehen. Ich bin allein zwischen hohen Bürogebäuden und Shoppingcentern – für einen kurzen Moment komme ich mir vor wie ein Überlebender in einem Science-Fiction-Film.
Von weitem ertönt leise Musik. Stimmen. Es sind Angestellte eines Restaurants, sie bereiten Gerichte für die Lieferdienste zu. «Wir schlafen alle hier», sagt ein Angestellter und zeigt auf eine dunkle Ecke. Auf dem Boden liegen Matratzen. Seit über einer Woche hat das Lokal geöffnet – für Take-Away.
Ein paar Strassenzüge weiter ist mehr Leben zu sehen. Die Geschäfte hier sind zwar geschlossen, dafür spazieren Anwohnerinnen und Anwohner auf dem Trottoir. Auf einer Treppe sitzt Frau Wang, sie zupft die getrockneten Zweige ihres Besens zurecht.
Täglich zum PCR-Test
Frau Wang gehört zum Heer von Strassenreinigern, die dafür sorgen, dass alles sauber bleibt. Auch während des zweimonatigen Lockdowns.
Zu Beginn des Lockdowns habe sie Angst gehabt, auf die Strasse zu gehen, sagt Frau Wang. Sie habe zusätzlich Plastikhandschuhe getragen und zwei Masken übereinander. Erst jetzt traue sie sich wieder, nur eine Maske zu tragen. Frau Wang fürchtet sich vor dem Virus. Kein Wunder: Die Staats- und Parteimedien warnen noch immer vor Corona.
«Jeden Tag mussten wir einen PCR-Test machen, ich habe so genug davon. Gestern hatte ich einen Tag frei, und schon rief mein Chef an, ich solle mich schnell testen lassen. Sonst dürfen wir nicht zur Arbeit.»
Vom Megafon geweckt
Die Anwohnerinnen und Anwohner meiner Siedlung müssen sich inzwischen alle zwei Tage einem Test unterziehen. Und zwar einem Antigen- und einem PCR-Test.
Frühmorgens werden wir per Megafon zum Test aufgeboten. Gerade haben wir einen sogenannten «temporären Aus- und Einreiseschein» erhalten – für die eigene Wohnsiedlung. Vor dem Siedlungstor steht jetzt zudem ein Lesegerät. Er liest die Handydaten und scannt das Gesicht.
So sind die Behörden informiert, welche Person zu welcher Zeit die Siedlung betritt. «Hier darf schliesslich nicht einfach jeder rein», erklärt eine Frau des Nachbarschaftskomitees. In den Handydaten registriert ist auch der letzte PCR-Test. Wer sich länger als 48 Stunden nicht getestet hat, darf die Siedlung nicht betreten.