In Brasilien steigen die Fallzahlen von Covid-19-Infizierten weiter. Dies hat auch mit der Haltung des Präsidenten und seiner Unterstützer zu tun. Viele davon sind evangelikale Christen, wie eine Beobachterin vor Ort sagt.
SRF News: Nicole Anliker, welche Rolle spielen die Evangelikalen in Brasilien für den Präsidenten Jair Bolsonaro?
Nicole Anliker: Grundsätzlich kann man sagen, dass rund 30 Prozent der brasilianischen Bevölkerung hinter dem Präsidenten stehen. Innerhalb der evangelikalen Glaubensgemeinschaft sind es rund 40 Prozent. Er schneidet bei ihnen besser ab als in der Durchschnittsbevölkerung.
Es gab Prediger, die ihren Gläubigen weisgemacht haben, sie seien immun gegen das Virus, weil sie gläubig seien.
Die Gesundheit gehe vor, sagen die einen; Gott werde es richten, die anderen. Was ist mit Fakten und Wissenschaft?
So einfach ist es nicht. Es gibt eine Gruppe innerhalb der Evangelikalen, die sich streng an die Weisungen der Weltgesundheitsorganisation hält und ihre Glaubensgemeinschaft aufgeklärt hat.
Andererseits gab es auch Prediger, die ihren Gläubigen weisgemacht haben, sie seien immun gegen das Virus, weil sie gläubig sind. Sie bezeichneten das Virus als Strategie Satans oder als göttliche Rache für Ungläubige. Interessant ist, dass es zwischen evangelikalen Pastoren zu Anfeindungen und Kritik kam. Dabei geht es nicht um Religion. Vielmehr zeigt sich ein Bruch zwischen Bolsonaro-Anhängern und solchen, die es nicht sind.
Was ist mit dem christlichen Gebot zur Nächstenliebe im Zusammenhang mit Corona?
Die Diskussion dreht sich kaum darum. Dass die evangelikalen Kirchen in den vergangenen Jahren so viel Gewicht bekommen haben, hängt unter anderem mit ihrer Rolle als Problemlöser in ärmeren Gesellschaftsschichten zusammen. Gerade in der Peripherie von Städten sind sie Anlaufstellen, die die Rolle des Staates übernommen haben. Studien zeigen, dass der Zulauf zu diesen Kirchen mit der wirtschaftlichen Krise zugenommen hat.
Viele kleine Hilfskollektive arbeiten zwangsläufig mit evangelikalen Kirchen zusammen, da diese logistisch besser ausgerüstet sind.
Für viele ärmere Menschen sind evangelikale Kirchen ein Netzwerk, das in der Not da ist. Sie verteilen in den Favelas Mahlzeiten oder Lebensmittel. Damit füllen sie ein Vakuum aus, das vom Staat hinterlassen wurde.
Die Evangelikalen springen für den Staat ein. Ganz uneigennützig ist dieser Einsatz aber nicht?
Sie verbreitern so ihre Basis, weil die Menschen auf Hilfe angewiesen sind. Viele kleine Hilfskollektive und Nachbarschaftsorganisationen arbeiten zwangsläufig mit evangelikalen Kirchen zusammen, da diese logistisch besser ausgerüstet sind. Viele Bedürftige sehen das Engagement dieser Kollektive dahinter gar nicht. Aus ihrer Sicht kommt das Essen dann von den Evangelikalen.
Was für einen Einfluss hat das auf die Politik?
Die Evangelikalen gehören zur Machtbasis des Präsidenten und erwarten für ihre Unterstützung eine Gegenleistung. Der Präsident pflegt seine Verbindungen mit ihnen öffentlich. Er nimmt an Kulten teil, betet in der Öffentlichkeit und jüngst forderte er, ein nationales Fasten durchzuführen und das Virus mit Glauben zu bekämpfen.
Präsident Bolsonaro teilt ihre konservativen Werte und politisiert entsprechend. Das spiegelt sich auch in seinem Kabinett: Die Familienministerin ist eine evangelikale Pastorin und der Bildungsminister, der jüngst ernannt wurde, ist auch evangelikal.
Das heisst: Auch das Coronavirus kann das Vertrauen vieler in ihren Präsidenten nicht erschüttern?
Ja, der Präsident hat diese Machtbasis. Es gibt zwar grundsätzlich mehr Leute, die sich von ihm abgewendet haben, das sind aber Leute, die keine überzeugten Unterstützer waren.
Das Gespräch führte Teresa Delgado.