Das Ergebnis der Mitgliederbefragung der deutschen Sozialdemokraten ist eine handfeste Überraschung: Die Genossen sprechen sich mit ihrem Votum gegen das Establishment aus. Mit Norbert Walter-Borjans und Saskia Esken könnten bald zwei Koalitions-Kritiker die Geschicke der SPD leiten. Ist der Bruch mit der Union noch vermeidbar? Wohl kaum, sagt der renommierte deutsche Politikwissenschaftler Karl-Rudolf Korte. Er geht davon aus, dass die SPD nicht genug Druckmittel in der Hand hat, um den Koalitionsvertrag nachzuverhandeln.
SRF News: Die SPD-Basis hat entschieden. Muss die SPD jetzt logischerweise aus dieser grossen Koalition aussteigen?
Karl-Rudolf Korte: Nein muss sie nicht. Sie hat nach wie vor die Möglichkeit, Themen nachzuverhandeln. Einen zwingenden Austritt aus der grossen Koalition sehe ich nicht. Beide Personen, die übrigens nur von einem Viertel der Wähler gewählt wurden, haben nicht gesagt, dass sie zu 100 Prozent aus der grossen Koalition austreten wollen.
Neuwahlen im nächsten Jahr schliesse ich zum jetzigen Zeitpunkt aus.
Dennoch geht es auch um die Projektion, die diese Wahl bedient hat: das Austreten aus der Gefängnis-Lage der grossen Koalition, dieser Notgemeinschaft. Insofern wäre der Bruch durchaus eine Konsequenz, die sich daraus entwickelt.
Sie sagen, ein Austritt sei nicht zwingend. Man könne inhaltlich noch etwas herausholen. Was können die neuen SPD-Vorsitzenden anbieten?
Sie können auf die Angst vor Neuwahlen setzen. Sie können versuchen mit Angeboten in der Steuerpolitik, der Rentenpolitik oder noch einmal in der Klimapolitik der Union Themen abzutrotzen.
Was kann die Union – insbesondere Angela Merkel – der SPD noch anbieten, ohne eine Revolte in den eigenen Reihen zu riskieren?
Nichts aus meiner Sicht. Sie kann nur darauf verweisen, dass sie sich auch freuen würde, alleine zu regieren. Es besteht die Möglichkeit nach dem Austritt der SPD, dass Merkel jedes Ressort mit CDU oder CSU besetzt und dann bis zum 31. Dezember 2020 über einen perfekten Bundeshaushalt verfügt. Insofern sehe ich sie in einer sehr guten Verhandlungsposition.
Können Sie das wahrscheinlichste Szenario der nächsten Monate umreissen?
Die wahrscheinlichste Variante ist eine Minderheitsregierung der CDU/CSU stabilisiert durch einen Bundeshaushalt, der bis Ende Dezember 2020 gilt. Neuwahlen im nächsten Jahr schliesse ich zum jetzigen Zeitpunkt aus.
Wie würde eine Minderheitsregierung funktionieren?
Sie würde regieren wie jetzt auch. Sie hat die Möglichkeit Geld auszugeben, weil der Haushaltsplan bereits festgelegt ist. Handlungsfähigkeit ist unter diesen Rahmenbedingungen für eine Merkel-Regierung gegeben. Die Minderheitsregierung bietet insofern Gelegenheit für eine weitere Profilierung potenzieller neuer Kanzlerkandidaten innerhalb der CDU/CSU.
Man kann zwar nicht jedes Politiker-Wort zum Nennwert nehmen, aber Merkel schliesst eine Minderheitsregierung bisher aus.
Die Union wäre in einer positiven Kommunikationslage, sie will ja gerne weiterregieren. Hier wäre die SPD die Schuldige. Wenn man es bis Ende Dezember 2020 aushält, dann könnten im Frühjahr 2021 vorgezogen Wahlen stattfinden. Das wäre kein Problem für das starke Wort von Frau Merkel, dass sie bis zum Ende alles zusammenhalten wird.
Dann wäre das Szenario: Neuwahlen im Frühling 2021?
Wenn der Bundeshaushalt für das Jahr 2021 nicht verabschiedet wird, gilt normalerweise die zwölffache Aufteilung des Bundeshaushalts aus dem vorangehenden Jahr vorher. Man fällt also nicht in Armut und in Kompetenz-Armut, sondern man kann weiter regieren, aber das ist dann nicht wirklich erfrischend.
Insofern wird man versuchen im Bundestagswahljahr 2021 vorzeitig durch eine Vertrauensfrage über die Runden zu kommen. Schuldig bleibt an dieser Veränderung aber immer die SPD. Die CDU wird ein grosses Interesse daran haben, es so darzustellen.
Welche Haltbarkeitsdauer geben Sie dem neuen SPD-Führungsduo? Norbert Walter-Borjans ist in der Schweiz als Steuersünder-CD-Jäger wahrscheinlich bekannter als in Deutschland.
Die SPD ist nicht attraktiv mit ihren letzten Vorsitzenden umgegangen. Dass das neue Duo länger aktiv ist und eine stärkere mobilisierende Kraft entwickelt, das ist im Moment bei der Verfassung der SPD eher unwahrscheinlich.
Wie viele Monate geben Sie den beiden?
Das kann ich so nicht beantworten. Allerdings spricht eine Mitgliederbefragung dafür, dass die getroffene Wahl nicht sofort wieder umgeworfen wird. Es sagt aber nichts über die Machtmöglichkeiten und die Legitimation des Führungsduos aus.
Das Gespräch führte Peter Voegeli.