In seinem Buch «Wenn Russland gewinnt: Ein Szenario» blickt Carlo Masala in eine nahe Zukunft, in der Russland den Ukraine-Krieg für sich entschieden hat und Nadelstiche im Baltikum setzt. Es ist der Anfang vom Ende der Nato. Im Gespräch erklärt der Experte für bewaffnete Konflikte, wie Russland vorgehen könnte – und wie wahrscheinlich sein Szenario ist.
SRF News: Was möchten Sie mit diesem Buch zeigen?
Carlo Masala: Ich will einen Beitrag zur Debatte leisten, die derzeit in ganz Europa geführt wird. Demnach soll Russland 2029 militärisch weit genug sein, um einen Nato-Staat anzugreifen – wenn es das denn wollte. Viele halten das für Quatsch. Sie sagen, Russland würde es nie riskieren, militärisch gegen die überlegene Nato vorzugehen.
Mein Buch soll aufzeigen, dass es nicht um einen vollumfänglichen Angriff gegen ein Nato-Land geht. Russland hat andere Möglichkeiten, um seine politischen Ziele zu erreichen. Nämlich über einen sehr begrenzten Test der politischen Belastungsfähigkeit der Nato.
Woher kommt Ihre Annahme, dass Putin dereinst die Belastbarkeit der Nato mit gezielten Nadelstichen testen könnte?
Putin geht es primär darum, die europäische Sicherheitsarchitektur, wie sie sich nach 1997 entwickelt hat, rückabzuwickeln. Das geht aus diversen Aussagen hervor, die er in den letzten Jahren gemacht hat. Wenn man sich fragt, warum Russland das will, kann man auch auf die Sowjetunion zurückblicken.
Ich sehe mich auch darin bestätigt, dass sich Russland vollumfänglich auf einen grossen Krieg vorbereitet.
Ihr Ziel war es immer, die Amerikaner aus Europa herauszubekommen und damit die Nato zu schwächen. Nur so glaubte man, Europa politisch, militärisch und ökonomisch dominieren zu können. Das glaubt man auch noch heute in Russland. Und es ist nicht auszuschliessen, dass Putin bereit ist, dieses Ziel auch zu verfolgen.
Warum wagt Russland in Ihrem Szenario bereits 2028 eine militärische Konfrontation mit der Nato?
Wenn man sich wie ich mit Kriegen beschäftigt, stellt man fest, dass sehr oft das Überraschungsmoment gesucht wird. Alle starren wie eingangs erwähnt auf 2029. Auf diese Zeitlinie blickt derzeit jede europäische Regierung und versucht sich entsprechend vorzubereiten. Aus Putins Sicht wäre es also vorteilhaft, früher anzugreifen.
Ausgangspunkt Ihres Szenarios ist, dass Russland in der Ukraine gewinnt. Was meinen Sie genau mit einem russischen Sieg?
Gewinnen verstehe ich so, dass Russland all die Oblaste behält, die es in der Ukraine annektiert hat. Zudem würde es in diesem Szenario nur noch eine schwache Regierung in der «Restukraine» geben, die über keine harten Sicherheitsgarantien verfügt. Das ist auch das, was Russland gegenwärtig in den Verhandlungen fordert. Aus russischer Perspektive wäre das ein Sieg.
Ihr Buch verstehen Sie nicht als Prognose, sondern als Szenario. Geschrieben haben Sie es bereits letztes Jahr, also vor der Amtseinsetzung von Donald Trump. Sehen Sie sich seither in Ihren Annahmen bestätigt?
Wenn ich die aktuellen Gespräche über eine mögliche Waffenruhe verfolge, sehe ich mich ziemlich bestätigt. Russland will die annektierten Oblaste behalten und Selenski durch Neuwahlen weg haben. Auf diese Neuwahlen will es dann auch Einfluss nehmen. Trump scheint bereit zu sein, über die «Wurzeln des Konfliktes» zu sprechen, wie sie Putin immer nennt. Nämlich die Entwicklung der Nato nach 1997. Ich sehe mich auch darin bestätigt, dass sich Russland vollumfänglich auf einen grossen Krieg vorbereitet: Dafür muss man sich nur anschauen, was es an militärischen Rüstungsgütern produziert.
Das Gespräch führte Matthias Kündig.