Als der Weltsicherheitsrat 1993 das UNO-Tribunal einrichtete, war das kaum mehr als eine leere politische Geste. «Die Einrichtung dieses Ad-hoc-Tribunals grenzte an ein Wunder. Zwar hatte es der Sicherheitsrat so angeordnet, aber alle dachten, dass sowieso nichts daraus wird», sagt Stefan Trechsel. Er war von 2005 bis 2013 der einzige Schweizer Richter am Jugoslawien-Tribunal.
Im Krieg in Bosnien-Herzegowina (1992-1995) hatte die Weltgemeinschaft versagt und das Blutvergiessen weder verhindern noch stoppen können. Das schlimmste Verbrechen auf europäischem Boden nach 1945 sollte sogar erst zwei Jahre später verübt werden: der Völkermord von Srebrenica.
Das UNO-Tribunal war das erste internationale Gericht für Urteile wegen Kriegsverbrechen in Europa nach 1945. Doch es gab keinerlei Aussicht, dass jemals einer der Hauptschuldigen auch tatsächlich angeklagt werden würde.
Es kam anders
Ex-Serbenführer Radovan Karadzic wurde 2008 an Den Haag ausgeliefert. 2016 wurde er unter anderem für den Völkermord von Srebrenica zu 40 Jahren Gefängnis verurteilt.
Der militärische Chef der bosnischen Serben, Ratko Mladic, war 2011 gefasst worden. Gegen den Ex-General verhängten die Richter erst in der vergangenen Woche die lebenslange Haftstrafe.
Verantwortliche zur Rechenschaft gezogen
24 Jahre später steht niemand mehr auf der Fahndungsliste des UNO-Gerichts. Zu den 84 Verurteilten gehören die militärisch und politisch Verantwortlichen der schlimmsten Verbrechen.
Damit erfüllte das Tribunal einen wichtigen Auftrag. Es zog diejenigen zur Rechenschaft, die für die Verbrechen militärisch oder politisch die höchste Verantwortung tragen. «Es war ein wichtiges Signal in die Welt, dass hier – für einmal – nicht nur die Handlanger, sondern die Hauptverantwortlichen zur Verantwortung gezogen worden sind», sagt Stefan Trechsel.
Keiner konnte sich hinter seinem Amt verstecken oder auf Immunität berufen. Auch kein Staatschef. 2001 war der ehemalige Präsident Rest-Jugoslawiens, Slobodan Milosevic, angeklagt worden. Der Prozess wurde nicht abgeschlossen, Milosevic starb 2006 an Herzversagen in seiner Zelle.
Auch wenn Milosevic nicht verurteilt werden konnte – das Tribunal hat erreicht, dass den Opfern Gerechtigkeit widerfährt, wie Trechsel sagt. «Das gibt ihnen viel. Sie sind so erleichtert. Es ist eindrücklich, das zu sehen.»
Es gab auch Ausnahmen
Für unbefriedigend hält Trechsel das Urteil gegen Karadzic, nur 40 Jahre statt lebenslänglich. «Die Begründung, dass er sich im Prozess kooperativ verhalten habe, halte ich für unbefriedigend.»
Auch den Freispruch des serbischen Nationalisten Vojislav Seselj verurteilt der frühere Richter am UNO-Tribunal in aller Schärfe: «Ich halte seinen Freispruch und die Tatsache, dass man ihn danach freigelassen hat, für ganz schlimm.» Der Seselj-Prozess sei ganz sicher kein Vorbild.
Als fehlerhaft bezeichnet Trechsel zudem den Freispruch in zweiter Instanz des kroatischen Generals Ante Gotovina. Serben sahen sich dadurch bestätigt, dass nur ihre Leute verurteilt würden und das UNO-Tribunal befangen sei. «Der Freispruch war auch in dieser Hinsicht unglücklich», sagt Trechsel.
Von Versöhnung keine Spur
Das Gericht habe zudem ein wichtiges Ziel verpasst: Eine Befriedung im Balkan. «Der Nationalismus blüht immer noch.» In Den Haag Verurteilte werden vor allem in Serbien jubelnd wieder aufgenommen und als Helden verehrt. Die nationalistische Propaganda verteufelt das UNO-Tribunal als «Organ des Westens» und antiserbisch.
Kein Urteil eines Richters kann Versöhnung bewerkstelligen.
Von Versöhnung auf dem Balkan kann kaum die Rede sein, wie Chefankläger Serge Brammertz bestätigt. «Kein Urteil eines Richters kann Versöhnung bewerkstelligen.» Versöhnung müsse aus den Gemeinschaften selbst kommen. «Wenn ich die Politiker sehe im früheren Jugoslawien, dann bin ich nicht sehr optimistisch.»