Israel hat in der Vergangenheit Menschen in Gaza Arbeitsbewilligungen erteilt, damit sie in Israel arbeiten konnten. Die besseren Löhne halfen diesen Arbeitenden, ihre Familien zu ernähren. Das sollte Spannungen im Gazastreifen abbauen. Zwar gab es immer wieder Zeiten, in denen Israel keine Arbeitsbewilligungen ausstellte. Jetzt ist aber definitiv Schluss damit: Die israelische Regierung hat sogar beschlossen, alle Arbeitskräfte, die seit dem Ausbruch des Kriegs vor vier Wochen in Israel und dem palästinensischen Westjordanland gestrandet sind, zurück nach Gaza zu schicken.
Nahost-Experte Richard C. Schneider erklärt, was das für die Menschen aus Gaza bedeutet – und wie sich der Krieg auf die boomende Tech-Branche im Land auswirkt.
SRF News: Welche Bedeutung haben diese Leute aus dem Gazastreifen und dem Westjordanland für die israelische Wirtschaft?
Richard C. Schneider: Für die gesamte israelische Wirtschaft haben sie keine so grosse Bedeutung. Denn diese entwickelt sich zu einem grossen Teil durch das Hightech-Business weiter. Die Unternehmen in diesem Bereich machen etwa 18 Prozent des Bruttosozialprodukts von Israel aus. Dennoch sind die Gastarbeiter aus den palästinensischen Gebieten wichtig, vor allem im Bauwesen und in der Landwirtschaft.
In Bezug auf Gaza wurde das aber vor allem auch gemacht, um die Situation der Palästinenser etwas zu verbessern. Die Vorgängerregierung von Netanjahus aktueller Regierung hat gesagt: Wenn wir mehr Palästinenser aus Gaza nach Israel reinkommen lassen, die hier Geld verdienen können, wird die Lage in Gaza auch weiter ruhig bleiben. Jetzt wissen wir, dass dies nicht der Fall war.
Schadet sich Israel nicht selbst, wenn die Gastarbeiter aus Gaza nicht mehr dort arbeiten können?
Im Grunde genommen nicht. Israel wird wieder vermehrt machen, was es früher schon gemacht hat: nämlich Arbeitskräfte aus dem Ausland holen. In Israel gibt es schon viele Arbeitskräfte aus Thailand und anderen asiatischen Ländern.
Wird in der Hightech-Branche mit ihren vielen Start-ups derzeit überhaupt noch gearbeitet?
Es wird noch gearbeitet. Aber es ist problematisch geworden. Israel hat zu Beginn dieses Krieges 360'000 Reservisten einberufen. Das bedeutet, dass zehn bis 15 Prozent der Arbeitskräfte im Hightech-Bereich jetzt auch in der Armee sind. Es kann also nicht mehr in der gleichen Weise gearbeitet werden: Man arbeitet, alles geht weiter – aber nicht im selben Tempo.
Von Januar bis Anfang Oktober – also vor Beginn dieses Krieges – haben etwa 80 Prozent der neuen israelischen Start-ups ihren Firmensitz in die USA verlegt.
Dazu kommt etwas anderes, was vielleicht noch viel entscheidender ist: Es gibt eine ganze Reihe junger Start-ups, die gerade dabei sind, Risikokapital zu bekommen oder in entsprechenden Verhandlungen sind. Hier besteht die Gefahr, dass die internationalen Investoren nun möglicherweise wegen der unsicheren Lage in Israel abspringen.
Die Befürchtung ist gross, dass keine Investitionen mehr aus dem Ausland nach Israel fliessen?
Tatsächlich. Das begann ja bereits mit den ganzen Problemen rund um die Justizreform zu Beginn des Jahres. Schon damals konnte man Bewegungen sehen, die für Israels Wirtschaft mittelfristig problematisch werden könnten.
Von Januar bis Anfang Oktober – also vor Beginn dieses Krieges – haben etwa 80 Prozent der neuen israelischen Start-ups ihren Firmensitz in die USA verlegt. Allein schon das war ein Anzeichen dafür, dass durch die Justizreform eine Unsicherheit entsteht – und Israelis selber nicht mehr im Land arbeiten wollen. Diese Entwicklung verschärft sich nun mit dem Krieg.
Das Gespräch führte Iwan Lieberherr.