Drei Wochen nach den Massakern der Hamas-Terroristen an israelischen Zivilisten hat die israelische Armee ihre Angriffe auf den Gazastreifen weiter verstärkt. In der Nacht zu Samstag stiessen erneut Bodentruppen in den Norden des abgeriegelten Küstengebiets vor. Anders als bei begrenzten Einsätzen dieser Art in früheren Nächten zogen sich die Panzerverbände jedoch zunächst nicht wieder zurück. Sicherheitsexperte Peter Neumann ordnet die jüngste Eskalation der Ereignisse in Nahost ein.
SRF News: Ist das nun der Beginn der lange angekündigten israelischen Bodenoffensive?
Peter Neumann: Ja, das glaube ich. Obwohl man sich wochenlang darüber gestritten hat, wie diese genau aussehen soll. Was wir jetzt sehen, ist eine erste, kleinere Welle, die sich wahrscheinlich in den nächsten Tagen und Wochen intensivieren wird. Der israelische Verteidigungsminister hat gesagt, er gehe von mindestens drei Monaten Kämpfen aus.
Welches Kalkül steckt hinter der schrittweisen Eskalation?
Das hat damit zu tun, dass man sich noch Gedanken darüber macht, welche politischen Ziele man überhaupt erreichen möchte. Wie soll der Gazastreifen nach dieser Bodenoffensive aussehen? Wer soll da regieren? Das ist noch gar nicht wirklich entschieden worden.
Ich glaube, da kommt noch viel, viel mehr.
Zum anderen sind da die über 200 israelischen Geiseln. Die möchte man befreien. Es gibt Vermittlungsbemühungen von Katar, unterstützt von den Amerikanern. Man erwartet, dass da in den nächsten Tagen noch was herauskommen könnte. Das will man nicht aufs Spiel setzen.
Gefährdet der israelische Druck die Sicherheit der Geiseln?
Es ist gerade an dem Kipppunkt, wo diese Geiselverhandlungen noch weitergehen können. Wenn der Druck sich deutlich erhöht, dann ist der Punkt erreicht, wo die Hamas die Vermittlungsbemühungen abbrechen würde. Deswegen glaube ich, geht Israel momentan noch relativ vorsichtig vor, auch wenn es nicht so aussieht. Aber ich glaube, da kommt noch viel, viel mehr.
Die Hamas insgesamt vernichten zu wollen, das ist zu ambitioniert.
Ist das Kriegsziel, die Vernichtung der Hamas, überhaupt zu erreichen?
Da bin ich sehr skeptisch. Das Kriegsziel ist ja in Wirklichkeit auch von Premierminister Netanjahu sehr vage formuliert worden. Es wurde gesagt, wir wollen die Hamas vernichten. Welche Hamas denn? Die militärische, terroristische Seite der Hamas? Die politische Seite? Ist es Hamas als religiöse oder gesellschaftliche Bewegung? Das alles sind ja Facetten von Hamas. Und deswegen ist Hamas so eng mit der Gesellschaft im Gazastreifen verwoben.
Ich glaube, es wäre ein legitimes und erreichbares Ziel für die Israelis zu sagen, wir schalten die militärische, terroristische Seite der Hamas aus, damit es ihr für Jahre nicht mehr gelingt, eine solche Offensive gegen unser Land zu starten. Aber die Hamas insgesamt vernichten zu wollen, das ist zu ambitioniert.
Warum wird das Ziel trotzdem so formuliert? Ist es der Druck der Bevölkerung?
Ja. Und weil Netanjahu vermutlich die Tatsache überkompensieren will, dass während seiner Regierungszeit die Bedrohung offensichtlich ignoriert wurde.
Das Gespräch führte Christina Scheidegger.