Welche international verbindlichen Regeln gelten bei bewaffneten Konflikten? Mit welchen Mitteln darf sich Israel gegen die Gewalt der Hamas zur Wehr setzen? Antworten auf diese Fragen hat der Basler Völkerrechtler Andreas Müller.
SRF News: Wie weit geht das Selbstverteidigungsrecht Israels gemäss UNO-Charta?
Andreas Müller: Es sieht vor, dass sich Staaten gegen einen bewaffneten Angriff verteidigen dürfen. Historisch konzipiert wurde das Verteidigungsrecht gegen einen Angriff eines anderen Staates – was mit der Hamas eigentlich nicht der Fall ist.
Auch bei Angriffen terroristischer Organisationen besteht das Verteidigungsrecht.
Doch aufgrund der Entwicklung in den letzten Jahrzehnten gehen heute Völkerrechtler davon aus, dass auch bei Angriffen terroristischer Organisationen wie der Hamas das Verteidigungsrecht besteht.
Gibt es Einschränkungen?
Ja. Das Selbstverteidigungsrecht darf grundsätzlich nur so lange ausgeübt werden, wie ein Angriff andauert oder ein erhebliches Risiko besteht, dass er wiederholt wird. Dabei stehen Selbstverteidigungsmassnahmen immer unter dem Vorbehalt der Verhältnismässigkeit.
Israel darf nur so weit gehen, den Angriff abzuwehren und für die Zukunft zu verunmöglichen.
Israel darf also nur so weit gehen, den Angriff abzuwehren und für die Zukunft zu verunmöglichen. Das gibt Israel allerdings erheblichen Spielraum für seine militärischen Massnahmen.
Was heisst das konkret im vorliegenden Konflikt zwischen Hamas und Israel?
Eine Bodenoffensive Israels wäre grundsätzlich durchaus denkbar. Israel darf also militärische Massnahmen im Gazastreifen ergreifen, um die Handlungsfähigkeit der Hamas einzuschränken oder zu beenden. Sehr schwierig zu sagen ist dabei, wie viele zivile Opfer in Kauf genommen werden dürfen.
Was sagt das Völkerrecht zu den zivilen Opfern?
Zusätzlich zum Recht auf Selbstverteidigung muss Israel das humanitäre Völkerrecht beachten sowie die internationalen Menschenrechte. Hier gibt es zwei zentrale Grundsätze: erstens das Unterscheidungsgebot. Eine kriegsführende Partei muss zu allen Zeiten zwischen Kombattanten und Zivilpersonen unterscheiden. Dabei dürfen Zivilpersonen und zivile Objekte niemals Ziel eines militärischen Angriffs werden. Und zweitens: Wenn ein legitimes militärisches Ziel angegriffen wird, muss der Angriff so gestaltet werden, dass zivile Opfer minimiert werden.
Die Hamas benutzt immer wieder zivile Einrichtungen für militärische Zwecke. Ist das völkerrechtlich erlaubt?
Auf keinen Fall. Auch die Hamas muss sich an die Regel halten, dass man zivile Objekte nicht militärisch nutzen darf. Wichtig ist: Auch wenn die eine Partei das humanitäre Völkerrecht in krasser Weise verletzt, ist die andere Seite nicht davon entbunden, die völkerrechtlichen Regeln der Kriegsführung trotzdem zu beachten.
Auch wenn in der Realität das Kriegsvölkerrecht oft verletzt wird – wie wäre die Situation, wenn es gar nicht existieren würde?
Die Regeln des Kriegsvölkerrechts wurden nicht von Menschen konzipiert, die besonders idealistisch gewesen wären. Viele der Regeln beruhen auf der Idee: «Tue gewisse Dinge nicht, und hoffe darauf, dass auch die andere Seite eine gewisse Mässigung an den Tag legt.» Das würde vielleicht ähnlich gut funktionieren, wenn es kein kodifiziertes Kriegsvölkerrecht gäbe.
Jedes einzelne Kriegsverbrechen, das man verhindern oder mässigen kann, ist ein kleiner Erfolg.
Gleichzeitig ist die Versuchung in Kriegen immer gross, die Regeln zu verletzen. Das Kriegsvölkerrecht führt also eine sehr prekäre Existenz. Aber: Jedes einzelne Kriegsverbrechen, das man verhindern oder mässigen kann, ist ein kleiner Erfolg in einer so furchtbaren Umgebung, die ein Krieg für alle Betroffenen bedeutet.
Das Gespräch führte Matthias Kündig.