In der Nacht auf Sonntag wurde der IS-Anführer Abu Bakr al-Baghdadi im Nordwesten Syriens von einem US-Sonderkommando getötet. Der Extremisten-Chef hatte sich in der letzten Rebellenhochburg Idlib versteckt, nur wenige Kilometer entfernt von der türkischen Grenze.
Nicht nur Verschwörungstheoretiker fragen sich: Wusste die Türkei etwas davon? «Erwiesen ist nichts. Ich bin aber der Meinung, dass die Türkei davon hätte wissen können», sagt Guido Steinberg, Terrorismus-Experte der Stiftung Wissenschaft und Politik in Berlin.
Für ihn ist klar: Grundsätzlich ist Ankara durchaus auf dem Laufenden, was auf der anderen Seite der Grenze vor sich geht.
Auf einem Auge blind?
Die Aufständischen in dem Gebiet werden von der Türkei unterstützt. Ausserdem unterhält die türkische Armee in der Provinz Idlib Beobachtungsposten. «Eigentlich müsste sie in der Lage sein, herauszufinden, wenn sich wichtige IS-Mitglieder dort aufhalten – dann noch in einer derart grossen Anlage, wie es Baghdadi getan hat.»
Dem IS werden mehrere, teils verheerende Anschläge in der Türkei zugerechnet. Als sich die Anschläge häuften, habe Ankara den IS zwar kurzzeitig intensiviert bekämpft, sagt Steinberg. Trotzdem schreibt er der Regierung Erdogan ein zwiespältiges Verhältnis zu den Terroristen zu.
Denn für sie habe die Bekämpfung der verbotenen Kurdenpartei PKK und den mit ihr verbundenen Kurdenmilizen in Syrien Priorität: «In ihnen sieht die Türkei eine existenzielle Bedrohung. Darob hat sie den IS zumindest passiv unterstützt.»
Steinberg erinnert daran, dass die syrisch-türkische Grenze jahrelang Einfallstor für ausländische IS-Kämpfer war. «Die gesamte Versorgung, teilweise auch Waffen, wurde über die Türkei abgewickelt.»
Mit dem Rückzug der USA aus Syrien warnen viele Beobachter vor einem Wiedererstarken des IS. Steinberg glaubt nicht, dass die Türkei, die nun selber in Syrien operiert, für eine verstärkte Bekämpfung der Dschihadisten zu haben ist. Die Europäer und die USA hätten das seit Jahren versucht - ohne Erfolg, gibt Steinberg zu bedenken.
Die Europäer haben in Syrien versagt.
«Mit dieser Regierung in der Türkei werden wir keine konsequente, gemeinsame Bekämpfung des IS hinbekommen. Das bedeutet, dass wir uns verstärkt um unsere Grenzen kümmern müssen», fordert Steinberg. Trotz dem Migrationsabkommen zwischen der Türkei und der EU sei auf den zweifelhaften Partner kein Verlass.
Und wie steht es um eine europäische Einflussnahme in Syrien selbst, um die Terrorgefahr einzudämmen? Steinberg winkt ab: «Dafür ist es zu spät. Die Europäer haben versagt.» Das Assad-Regime, die Türkei und Russland seien dabei, die letzten umstrittenen Gebiete untereinander aufzuteilen.
Steinberg sieht keine Möglichkeit für die EU, in Syrien unabhängig von den USA Einfluss zu nehmen: «Das ist vor dem Hintergrund der terroristischen Bedrohungslage und möglicher neuer Flüchtlingsströme dramatisch.»
Absetzbewegung der Dschihadisten?
Nordsyrien drohe nun zu einem blinden Fleck zu werden. «In der Provinz Idlib sammeln sich Terroristen aller möglicher Gruppierungen.» Ihnen steht eine Konfrontation mit den Russen und Assads Truppen bevor.
Steinberg schliesst mit einer düsteren Prognose: Zwischen der Provinz Idlib und dem Schengenraum gebe es nur zwei sehr schwach geschützte Grenzen: Einmal zwischen Syrien und der Türkei und dann zwischen der Türkei und der Ägäis. «Und viele Terroristen werden den Weg in die Türkei finden.»