Mit dem Abgang der deutschen Bundeskanzlerin Angela Merkel verliert die Schweiz eine wichtige Fürsprecherin innerhalb der EU. Die Beziehungen zwischen den beiden Ländern werden auch mit der neuen Bundesregierung gut bleiben, ist der Schweizer Botschafter in Berlin überzeugt. Im Zweifelsfall aber gehe die EU vor.
Angela Merkel und die Schweizer Bundesrätinnen
In der Schweizer Botschaft in Berlin, die in unmittelbarer Nähe des Kanzleramtes von Angela Merkel liegt, gibt es eine kleine Fotogalerie. Auf einer der Aufnahmen sieht man die deutsche Bundeskanzlerin zusammen mit der damaligen Bundespräsidentin der Schweiz, Doris Leuthard, bei deren Arbeitsbesuch im April 2010 in Berlin.
«Das Foto zeigt, wie sich beide aufs Allerherzlichste begrüssen. Wie zwei alte Freundinnen, die sich über das Wiedersehen freuen», erzählt der Schweizer Botschafter in Berlin, Paul Seger. Kanzlerin Merkel sei ja nicht gerade bekannt dafür, Emotionen zu zeigen. Insofern sage dieses Bild mehr als tausend Worte aus über die Beziehungen der Schweiz zu Deutschland, findet der Top-Diplomat: «Ich muss immer schmunzeln, wenn ich daran vorbeigehe.»
Zehn Jahre später, im Mai des letzten Jahres, hätte ein Staatsbesuch der damaligen Bundespräsidentin Simonetta Sommaruga in Berlin stattfinden sollen. Wegen Corona habe dieser aber bloss per Videokonferenz abgehalten werden können, erinnert sich Seger. Aber auch das habe der guten Stimmung keinen Abbruch getan: «Obschon solche Videokonferenzen zwangsläufig immer etwas steril sind, war die Atmosphäre sehr herzlich und entspannt.» Und deshalb dürfe man feststellen: «Bundeskanzlerin Merkel ist eine Freundin der Schweiz!»
Diese Freundin wird die Schweiz in wenigen Wochen nun verlieren. Doch die freundschaftlichen Beziehungen zwischen den beiden Ländern würden sich nicht auf die Regierungsspitzen beschränken, ist Seger überzeugt, der die Schweiz seit drei Jahren in Berlin vertritt: «Wir sind und bleiben enge Nachbarn, die viel Gemeinsames haben.»
An den guten Beziehungen habe auch der Entscheid des Bundesrates vom 26. Mai, die Verhandlungen mit der EU über ein Rahmenabkommen abzubrechen, nichts geändert, stellt Seger fest. «Natürlich hat dieser Entscheid in Deutschland eine gewisse Überraschung, auch Enttäuschung und Verunsicherung ausgelöst», sagt der Schweizer Botschafter, «aber das solide Fundament unserer Beziehungen wurde dadurch nicht erschüttert.»
Gemeinsame Interessen stärken Beziehung
Wirtschaftlich ist das Fundament sogar extrem solid. Deutschland ist der wichtigste Handelspartner der Schweiz mit einem Handelsvolumen von fast 90 Milliarden Franken im letzten Jahr. Zudem sei die Schweiz der drittgrösste Investor in Deutschland, betont Seger: «Die Wirtschaftskraft der Schweiz in Deutschland ist sicher sehr bedeutsam.»
Besonders mit dem angrenzenden Bundesland Baden-Württemberg seien die Beziehungen sehr gut, und die Schweiz werde dort als Partnerin hochgeschätzt. Im Oktober lade Ministerpräsident Winfried Kretschmann zum Beispiel den Schweizer Bundespräsidenten Guy Parmelin zu einem Wirtschaftsgipfel ein, verrät Seger.
Gehe man hingegen weiter in den Norden Deutschlands, nehme das politische Interesse an der Schweiz merklich ab, beobachtet der Botschafter. Da sei es seine Aufgabe, unser Land als attraktiven und interessanten Partner zu positionieren: «Wir geniessen vor allem dort politische Aufmerksamkeit, wo wir gemeinsame Interessen teilen und auch Deutschland etwas zu bieten haben.» Der Botschafter nennt als Beispiele Zukunftsfragen wie Nachhaltigkeit und Klima, aber auch Infrastruktur, Digitalisierung oder Innovation.
Seger schliesst nicht aus, dass die Schweiz im Bereich Forschung engere Kontakte zu Deutschland knüpfen könnte, sollte sich unser Land nicht am Forschungs-Rahmenprogramm der EU beteiligen können: «Wenn es allenfalls mit ‘Horizon Europe’ nicht funktionieren sollte, dann kann man mit Deutschland auf bilateraler Ebene versuchen, im Bildungs- und Forschungsbereich zusammenzuarbeiten.»
Neue Ausgangslage durch Regierungswechsel
In nächster Zeit aber wird Seger mit seinem Team vor allem Kontakte knüpfen müssen zur neuen deutschen Regierung – wie auch immer diese nach dem Sonntag aussehen mag: «Sobald feststeht, wer eine Koalitionsregierung bildet, müssen wir neue Beziehungen aufbauen», ist sich der Botschafter bewusst: «Das wird sicher eine gewisse Weile dauern.»
Die neue Regierung wird dann auch eine nicht unwesentliche Rolle spielen beim «politischen Dialog», den die Schweiz nach dem Nein zum Rahmenabkommen mit der EU installieren möchte. Zum einen sei Deutschland gemeinsam mit Frankreich sozusagen der «Zwei-Takt-Motor» der EU, sagt Seger. Zum anderen habe sich Deutschland immer wieder in Brüssel für Schweizer Interessen eingesetzt.
«Deutschland versucht wirklich, uns im Rahmen seiner Möglichkeiten zu helfen», stellt der Schweizer Botschafter fest. Gleichzeitig müsse man aber nüchtern bleiben: «Die europäische Solidarität hat für Deutschland eine zentrale Bedeutung. Und im Zweifelsfall wird diese Solidarität dann auch Vorrang haben.»
Wenn es um EU-Interessen geht, stösst die deutsch-schweizerische Freundschaft also an ihre Grenzen.