Betteln auf dem Markt und in Geschäften, wie hier im Norden Mumbais – für Sejal Patil ist das Routine. Auch an diesem Morgen zieht die trans Frau von Laden zu Laden: Reisst die Tür auf, grüsst knapp, bietet ihren Segen an. Dann streckt sie die Hand über die Ladentheke. Ein Kleiderhändler steckt ihr ein paar Rupien zu und bittet um ihren Segen, damit sein Sohn schnell eine Braut findet.
Der Segen von Transsexuellen ist in Indien gesucht, ihr Fluch gefürchtet. Im Hinduismus werden sie mit Göttern gleichgestellt. Aber im täglichen Leben hätten sie es schwer, erzählt die 30-jährige Sejal Patil: «Meine Familie liebt mich, aber sie sagte: Wenn du Sari tragen willst, also das traditionelle Gewand der Frauen, dann musst du gehen.»
Nach dem Schulabschluss verliess Sejal Patil ihre Familie und suchte sich eine Guru-Mutter in einer «Hijra»-Gemeinschaft. Als Schülerin muss Sejal Patil ihre Guru-Mutter bezahlen. Um Geld zu verdienen, arbeiten viele der geschätzt gut fünf Millionen «Hijras» in Indien als Prostituierte – mangels Alternative. Doch Sejal hat einen anderen Weg gefunden.
Ein paar Hundert Meter weiter, hinter einem Eisentor, steht ein Schutzhaus für 20 junge trans Erwachsene. Es ist für Personen, die von zu Hause weggelaufen sind, weil sie von den Eltern aufgrund ihrer Geschlechtsidentität nicht akzeptiert wurden.
Männer, die weiblich wirken, haben in der patriarchalischen indischen Gesellschaft einen schweren Stand.
Hinter einem Schreibtisch sitzt Maya, die Gründerin. Sie stellt sich als «Hijra» vor. Schon früh habe sie sich heimlich als Frau verkleidet. Seit ihr älterer Bruder sie dabei erwischte, sei sie von ihm missbraucht worden, jahrelang. Maya schwieg – die Eltern durften von ihrem Anderssein nichts erfahren. «Männer, die weiblich wirken, haben in der patriarchalischen indischen Gesellschaft einen schweren Stand», sagt Maya. «Wenn du weiblich bist, bist du schwach.»
Maya entdeckte erst mit Mitte 20 ihre Geschlechtsidentität als Frau. Auch sie schloss sich einer Guru-Mutter an, die zu ihrer Leitfigur und Zuhälterin wurde. «Es ist der Hunger, der dich zur Sexarbeit zwingt», sagt die heute 42-Jährige, die ein paar Jahre als Prostituierte arbeitete. Später schaffte sie den Absprung in einem Unternehmen, wurde Aktivistin und gründete das Schutzhaus.
Diskriminierung und Hass trotz juristischer Anerkennung
Dass das dritte Geschlecht vor zehn Jahren vom Obersten Gericht Indiens juristisch anerkannt wurde, habe zwar Begeisterung ausgelöst. Aber praktisch geändert habe sich dadurch nicht viel, sagt Maya.
Noch immer gebe es in Indien viel Hass, Diskriminierung und Stigmata gegenüber dem dritten Geschlecht. Noch immer würden Eltern Kinder, die nicht in gängige Geschlechterrollen passten, aus dem Haus jagen und Firmen sie nicht einstellen.
Ich wechsle jeden Tag das Geschlecht.
Maya selbst hat ihren eigenen Weg gefunden. Ihre Mutter sei noch immer geschockt, dass ihr Kind eine Frau sein will. Darum ist Maya, die wieder zu Hause wohnt, im Elternhaus ein Mann. Und wird zur Frau, sobald sie das Haus verlässt. «Ich wechsle jeden Tag das Geschlecht», sagt Maya. Alles, um auch als «Hijra» ein einigermassen normales Leben führen zu können.