Mit dem Rücktritt des schiitischen Geistlichen Muktada al-Sadr aus der Politik spitzt sich die Krise in Irak dramatisch zu. Seine Anhänger haben den Regierungspalast in der gesicherten Grünen Zone in Bagdad gestürmt. Einschätzungen von Nahost-Korrespondentin Susanne Brunner.
SRF News: Warum hat Muktada al-Sadr gerade am Montag seinen Rücktritt erklärt?
Susanne Brunner: Am Dienstag will das höchste Gericht des Landes über die Auflösung des Parlaments entscheiden: Das war eine Forderung Muktada al-Sadrs. Offenbar hat er erfahren, dass das Gericht das Parlament nicht auflösen wird. Da verkündete er auf Twitter, er steige aus der Politik aus – für immer. Und nicht nur das: Er löse auch das Komitee auf, das seit Ende Juli die Demonstrationen dirigiert hatte – und diese so im Zaum hielt.
Es ist nicht das erste Mal, dass Sadr mit Rücktritt droht.
Ausserdem wolle er alle seine Büros schliessen. Er untersagte seinen Anhängern auch, weiterhin Plakate mit seinem Bild und Logo zu gebrauchen. Man muss allerdings sagen: Es ist nicht das erste Mal, dass Sadr mit Rücktritt droht.
Was heisst das, wenn seine Bewegung nun quasi führungslos ist?
Zunächst einmal heisst es Wut und Verzweiflung bei seinen Anhängern. Auch wenn viele sicher vermuten, Sadr wolle mit diesem Schachzug den Druck auf das Gericht und die anderen Politiker noch mehr erhöhen – sicher sein können sie nicht, ob er sie jetzt im Stich lässt oder eine andere Strategie ausheckt.
Sein Ziel war es ja erklärtermassen, die korrupte politische Elite loszuwerden, vor allem der Block hinter seinem Erzfeind und ehemaligen Premier Nouri al-Maliki. Dieser gilt bei Sadrs Anhängern als korruptester Politiker. Sie werfen ihm vor, Irak komplett an Iran zu verkaufen und auszuliefern.
Eine weitere unmittelbare Folge: Seit Ende Juli sorgten Sadrs Leute dafür, dass die Demonstrierenden, die zumeist aus ärmlichsten Verhältnissen kommen, genug zu essen und zu trinken hatten und dass sie sich bei der Gluthitze von 48 Grad Celsius auch mal abkühlen konnten. Das ist jetzt alles weg. Mit seinem Rücktritt nimmt Sadr eine Explosion der Wut in Kauf, und er liefert seine Anhänger auch seinen Gegnern aus.
Ist das Risiko für einen Bürgerkrieg in Irak mit dem heutigen Tag gestiegen?
Die Gefahr, dass Irak erneut in Gewalt versinkt, ist auf jeden Fall jetzt sehr gross. Es wirkt schon fast verzweifelt, wie Premier Moustafa al-Kazimi zuerst Sadr aufforderte, seine Anhänger unter Kontrolle zu bringen, und jetzt diese auffordert, sich aus dem Regierungsviertel zurückzuziehen.
Die Gefahr, dass Irak erneut in Gewalt versinkt, ist auf jeden Fall jetzt sehr gross.
Das Problem sind nicht nur die verfeindeten schiitischen Blöcke, sondern: In Irak ist der IS noch sehr aktiv, dann schlicht auch kriminelle und terroristische Organisationen – und alle haben Waffen.
Gibt es noch einen Ausweg aus dieser Situation?
Aus Sicht der Anhängerschaft Muktada al-Sadrs gibt es eine einzige Lösung: Das Parlament auflösen, Neuwahlen durchführen, die dann dazu führen, dass alle korrupten Politiker abgewählt werden, und dass dann alles gut wird. Das ist zwar realitätsfremd. Aber die Tatsache ist: Die Alltagsrealität ist für einen grossen Teil der Bevölkerung so perspektivlos, dass für sie Sadrs Vision alternativlos ist. Das heisst: Ein Ausweg liegt nicht auf der Hand – und das weiss Muktada al-Sadr auch.
Das Gespräch führte Simone Hulliger.