Die vorgezogenen Parlamentswahlen im Irak waren eine Forderung der Demonstrierenden, die ab Oktober 2019 unter Lebensgefahr auf die Strasse gingen. Viel ändern wird sich nach den Wahlen nicht.
Demokratie mit der Waffe im Genick
Der Sieger der irakischen Wahlen heisst Muktada Al-Sadr. Kandidiert hat er selbst zwar nicht, aber die «Reform-Koalition» des schiitischen Geistlichen und Milizenführers hat von allen Parteien mit Abstand am meisten Stimmen geholt.
Für eine Mehrheit im Parlament reicht es nicht. Trotzdem verkündete Al-Sadr: «Unsere Reformbewegung hat die Korruption besiegt und der Staat die Milizen.» Eine kühne Behauptung. Denn auch Al-Sadrs Leute sind in den Ministerien, die sie beherrschen, in Korruptionsfälle verwickelt. Und die pro-iranischen Milizen, deren zunehmender Einfluss im Irak ein grosses Tabu ist, sind nicht besiegt.
Eine Viertelmillion Sicherheitskräfte mussten die Wahlberechtigten am Wahltag beschützen: Die Zahl spricht für sich. Im Vorfeld der Wahlen wurden über dreissig prominente Aktivisten und potenzielle Kandidaten umgebracht.
Kandidieren unter diesen Umständen brauchte Mut. Und von 25 Millionen Wahlberechtigten gaben nur neun Millionen ihre Stimme ab.
Die Mehrheit blieb aus Angst, Misstrauen oder mit dem Gefühl «es ändert sich ja doch nichts» zu Hause. Mit rund hundert Milizen im Land ist Wählen im Irak wie seine Stimme abgeben mit der Waffe im Genick. Auch wenn Premierminister Mustafa Al-Kadhimi alles getan hat, um die Wählenden zu schützen.
Al-Sadr verspricht viel – und handelt oft widersprüchlich
Die Wahlen haben ohne Anschläge stattgefunden. Das ist nicht selbstverständlich im Irak, der seit der US-Invasion 2003 um seine Souveränität kämpfen muss: Im Irak tragen die USA und Iran ihre Machtkämpfe aus, ohne die Regierung erst zu fragen, und der Islamische Staat (IS) ist noch immer eine Gefahr.
Kein Wunder ist Muktada Al-Sadr für viele ein Hoffnungsträger: Er verspricht dem irakischen Volk ein Ende der Einmischung fremder Grossmächte, allen ein besseres Leben, ein Ende der Korruption und der Gewalt.
Manchmal handelt Al-Sadr so, als wäre es ihm damit ernst: Er stellte sich auf die Seite der Demonstrierenden, liess sie dann aber wieder fallen. Er stellt sich gegen die iranischen Milizen, und lebt gleichzeitig häufig im Iran. Er gibt sich als Feind der USA, und sucht doch den Dialog mit der Supermacht.
Die Armen in Sadr City, dem Stadtteil Bagdads, der nach dem Vater von Muktada Al-Sadr benannt ist, sehen ihn als Retter des Irak, obwohl sie von ihm nur Brosamen bekommen.
Andere Politiker behalten selbst die Brosamen für sich und foutieren sich darum, dass ihr Land laut der Weltbank die jüngste Bevölkerung der Welt hat, die sich nichts sehnlicher wünscht als eine Zukunft in Sicherheit und Würde.
Ein Wunsch, der wohl auch nach diesen Wahlen ein Traum bleibt. Denn trotz vielen neuen Gesichtern im Parlament bleiben die Strippenzieher – im und ausserhalb des Irak – dieselben.
Das zeigt nur schon die heftige Reaktion der Parteien, die mit pro-iranischen Milizen in Verbindung stehen: Diese weigern sich, ihre beträchtlichen Sitzverluste hinzunehmen. Das Wahlresultat sei «der grösste Betrug», den das irakische Volk je erlebt habe. Was sicher ist: Das irakische Volk wird den Streit um das Wahlresultat ausbaden müssen – einmal mehr.