Der Vorwurf gegen die indische Regierung ist happig: Sie soll im Vorfeld der nationalen Wahlen von 2019 Telefone, Tablets und Computer von über 300 regierungskritischen Personen mit der Spionage-Software «Pegasus» ausspioniert haben. Allein laut WhatsApp hatte «Pegasus» auf über 100 Konten in Indien Zugriff.
Das sei wohl nur die Spitze des Eisbergs, sagt der indische Autor und Menschenrechtsaktivist Harsh Mander: «Es gibt keine umfassende Liste über die Ausspionierten.» Zwar sei der Staat befugt, mutmassliche Terroristen über eine gewisse Zeit auszuspionieren, doch Indien habe die Befugnisse schamlos ausgenutzt.
Mander nennt ein Beispiel: Ein oberster Richter stand 2019 in Verdacht, eine Praktikantin sexuell misshandelt zu haben. Der Fall wurde nie richtig untersucht. Stattdessen wurden die Frau und elf ihrer Familienmitglieder mittels «Pegasus» beschattet.
Der indische Staat hat seine Befugnisse schamlos ausgenutzt.
«Man muss sich schon fragen, welche nationale Bedrohung von dieser Frau ausging, um eine derart grosse Abhöraktion zu rechtfertigen», stellt Mander fest. Der Verdacht liegt nahe, dass das Ansehen des regierungsnahen Richters im Vordergrund stand.
Alle unliebsamen Stimmen im Visier von «Pegasus»
Intellektuelle, Journalisten, Politiker bis hin zu Oppositionsführer Rahul Ghandi wurden über Monate ausgehorcht. Auch Mander muss davon ausgehen, dass sein Telefon oder sein Computer abgehört wurden – oder noch werden: «Ich kann mich entweder einschüchtern lassen oder so tun, als ob es mir egal ist.»
Mander hat Letzteres gewählt. In seiner Arbeit prangert er den von der hindu-nationalistischen Regierung geschürten Hass gegen religiöse Minderheiten im Land an und gerät damit immer wieder ins Visier des Staates. Vor einem Monat wurden sein Haus und sein Büro durchsucht.
Ich kann mich entweder einschüchtern lassen oder so tun, als ob es mir egal ist.
Mander wird vorgeworfen, einer radikal-kommunistischen Terrorzelle nahezustehen. Diese hat vor allem im Osten Indiens Anschläge auf Regierungs- und Sicherheitsbeamte ausgeführt. Die Vorwürfe mögen an den Haaren herbeigezogen sein. Dennoch könnten sie für Mander gefährlich werden.
Der Fall Stan Swami – gestorben im Haft
Andere Beispiele gibt es genügend. Mander nennt den Fall von Stan Swami, den 80-jährige Jesuitenprister in Maharashtra, der sich für die Rechte der indigenen Völker, der Adivasi, einsetzte: Swami wurde vor einem Jahr verhaftet, weil auf seinem Computer Pläne für die Ermordung des Premierministers gefunden worden waren.
Untersuchungen an seinem Computer in den USA bewiesen aber, dass das schwer belastende Material über einen Virus implantiert worden war. Es half nichts, Swami starb dieses Jahr in Haft.
Leichte Hoffnung auf Kommission
Mehrere andere Aktivisten sitzen unter dem Terrorismus-Vorwurf noch im Gefängnis. Keinem sei bisher der Prozess gemacht worden, so Mander. Keiner der Fälle habe wahrscheinlich vor Gericht Bestand, doch das sei auch nicht das Ziel.
Das wahre Ziel ist laut Mander Einschüchterung: «Indien wird zu einem Orwell’schen Überwachungsstaat, in dem niemand weiss, was er oder sie gerade falsch macht.» Diese Science-Fiction sei bittere Realität für Regierungskritiker in Indien.
Indien wird zum Orwell’schen Überwachungsstaat, in dem niemand weiss, was er oder sie gerade falsch macht.
Nun nimmt sich eine richterliche Untersuchungskommission der «Pegasus»- Schnüffelaffäre an. Ein positives Zeichen, sagt Mander, warnt aber vor zu hohen Erwartungen: «Viele solcher Untersuchungen dauern Jahre oder Jahrzehnte und die Ergebnisse werden oft nicht veröffentlicht.» Die Kommission sei aber das einzige Mittel, um wenigstens etwas Licht in die Affäre zu bringen.