Nach viereinhalb Jahren hat Ägyptens Präsident Abdel Fattah al-Sisi den Ausnahmezustand aufgehoben. Ägypten sei inzwischen «eine Oase der Sicherheit und Stabilität in der Region» geworden, schrieb er auf Twitter. Der Ägypten-Kenner und Korrespondent für die ARD, Martin Durm, sieht in der Aufhebung vor allem ein Signal an ausländische Geldgeber und Touristen.
SRF News: Weshalb hat Ägyptens Präsident den Ausnahmezustand gerade jetzt aufgehoben?
Martin Durm: Das Regime glaubt, seine Macht konsolidiert zu haben. Es hat die viereinhalb Jahre Ausnahmezustand dazu benutzt, rücksichtslos gegen Kritiker und vor allem gegen Muslimbrüder vorzugehen. Internationale Menschenrechtsorganisationen gehen davon aus, dass in Ägypten 60'000 politische Häftlinge im Gefängnis sitzen. Darunter sind auch Hunderte Journalisten, Blogger oder Aktivisten. Sie sind oft in schmutzigen Massenzellen inhaftiert, nach wie vor wird in den Gefängnissen gefoltert.
In den Gefängnissen wird nach wie vor gefoltert.
Gleichzeitig steht das Land in Sachen Todesstrafe hinter China und Iran an dritter Stelle: Allein letztes Jahr wurden offiziell 107 Menschen hingerichtet. Wenn al-Sisi nun sagt, das Land sei eine «Oase der Sicherheit und Stabilität», dann ist das vor allem ein Signal an den Westen, um der Kritik an den Menschenrechtsverletzungen entgegenzutreten, Investoren zu besänftigen und Touristen anzulocken.
Wie sicher und stabil ist Ägypten in Wahrheit?
Tatsächlich ist in Alexandria oder Kairo – wo 2017 schreckliche Anschläge verübt wurden – seit ein, zwei Jahren nichts mehr passiert. Doch das heisst noch lange nicht, dass das ganze Land sicher und stabil wäre. So ist der Sinai seit Jahren komplett für Zivilisten abgeriegelt.
IS-Kader aus Syrien und Irak nutzen den Sinai als Stützpunkt.
Seit Jahren verübt dort eine radikale Gruppe, die sich dem IS angeschlossen hat, Anschläge vor allem auf Armeestützpunkte. IS-Kader aus Syrien und Irak nutzen den Sinai seit der Vernichtung des Kalifats als Stützpunkt. Im Gegenzug bombardiert die ägyptische Armee diese Dschihadisten-Gebiete. Entsprechend ist der Sinai nach wie vor ein Unruheherd und ein Risiko für Ägypten.
Wird sich für politisch anders Denkende durch die Aufhebung des Ausnahmezustands etwas ändern?
Das ist derzeit Spekulation. Sicher ist: Die Ägypterinnen und Ägypter leben seit 2013 mit dem Regime von al-Sisi und sie wissen, dass die kleinste Kritik dazu führen kann, dass man monate- oder jahrelang ohne ordentliches Verfahren im Gefängnis verschwindet.
An den sozialen Missständen und den schlimmen Zuständen in den Gefängnissen ändert sich nichts.
Al-Sisi hat das System auf sich zugeschnitten und eine Verfassungsänderung durchgeboxt, die es ihm ermöglicht, bis mindestens 2030 an der Macht zu bleiben. Die Aufhebung des Ausnahmezustands ändert nichts an den sozialen Missständen oder den schlimmen Zuständen in den Gefängnissen. Insofern bleibt Ägypten instabil.
Dann ändert sich also nichts im Alltag der Menschen?
Nein. Das Militär hat seinen Einfluss auf die Wirtschaft und das öffentliche Leben unter al-Sisi nochmals massiv ausgedehnt. Es kontrolliert alle grossen Unternehmen. Man kann nicht einmal Mineralwasser kaufen, das nicht aus von der Armee kontrollierten Betrieben kommt.
In Ägypten gibt es keinen Mittelstand mehr.
Zugleich sind private, kleine Betriebe untergegangen, es gibt keinen Mittelstand mehr. 40 Prozent der jungen Leute sind arbeitslos. Hinzu kommen die Probleme durch Bevölkerungszunahme, Währungszerfall, staatliche Repression, Perspektivlosigkeit. Wie sich daraus Stabilität und ein besserer Alltag für die Menschen ergeben soll, erschliesst sich wohl nur dem Präsidenten.
Das Gespräch führte Claudia Weber.