Seit Monaten ist die Energieversorgung in Europa eine schwierige Angelegenheit – unter anderem wegen des Ukraine-Kriegs und weil Strom und Gas deutlich teurer geworden sind. Um die Versorgung sicherzustellen, greifen die europäischen Regierungen auf fossile Energien zurück. Gleichzeitig wollen sie aber an den Klimazielen festhalten, zu denen sie sich verpflichtet haben. Das sei ein Dilemma, sagen Beobachterinnen und Beobachter. Nachhaltigkeitsforscher Rainer Quitzow sieht das differenzierter.
SRF News: Wie soll die europäische Politik mit diesem Dilemma umgehen?
Rainer Quitzow: Man muss präzisieren. Die Energiekrise ist vor allem eine Gaskrise und somit grundsätzlich kein Dilemma. Denn wenn man weniger Gas verbraucht, dafür aber mehr erneuerbare Energien nutzt, dann kann man sowohl das Klima besser schützen als auch diese Gaskrise überwinden.
Kurzfristig wird stärker auf fossile Energieträger gesetzt.
Das Problem ist, dass der kurzfristige Ausbau der Erneuerbaren nicht so schnell vorangehen kann, dass man die jetzigen Engpässe ausgleichen könnte. Deswegen wird teilweise auf andere fossile Energieträger und auf das Erschliessen neuer Gasressourcen gesetzt. Das ist dann tatsächlich ein Dilemma.
Wir befinden uns bereits in dieser Übergangsphase. Welche konkreten Auswirkungen der Energiekrise können Sie schon ausmachen? Was beobachten Sie in Bezug auf die Klimaziele?
Der Ausbau der erneuerbaren Energien wird beschleunigt. Man hat auch stärkere Massnahmen ergriffen, um das Energiesparen zu fördern. Das ist das Positive. Das Negative ist, dass man einerseits kurzfristig stärker auf fossile Energieträger setzt, also vor allem auf Kohle, um den Engpass bei der Gasversorgung im Stromsektor zu überwinden.
Auf europäischer Ebene hat man klargestellt, dass man den Ausbau der Erneuerbaren beschleunigen will, um diese Krise zu bewältigen.
Zum anderen – und das ist vielleicht gravierender – werden auch Investitionen stärker gefördert, um neue Gasvorkommen zu erschliessen. Zum Beispiel wird in Grossbritannien neuerdings das Erschliessen von Schiefergas wieder ermöglicht. Es werden in Deutschland LNG-Terminals für den Flüssiggas-Transport gebaut. Das sind längerfristige Investitionen, die auch längerfristig greifen werden.
Wir haben auf der einen Seite eine gewisse Bedrohung für die Klimaziele durch die Bestrebungen der europäischen Regierungen. Auf der anderen Seite kommt Schwung in den Ausbau der Erneuerbaren. Was überwiegt? Wie dramatisch sind die Folgen der Energiekrise für die Klimaziele?
Es ist sehr schwer zu beziffern, was jetzt überwiegt. Klar ist, dass auf Ebene der Klimaziele die zusätzliche Bestrebung überwiegt. Man hat die Ziele auf europäischer Ebene und auch in einigen EU-Ländern deutlich angehoben. Damit hat man klargestellt, dass man den Ausbau der Erneuerbaren beschleunigen will, um diese Krise zu bewältigen.
Ich bin relativ guter Dinge, dass die Ziele weiterhin aufrechterhalten werden.
Aber es gibt auch andere Effekte, die eher kurzfristiger Natur sind, und eben schwierig zu bewerten: Welchen Schaden werden die Investitionen im Gasbereich längerfristig anrichten? Werden die Klimaziele dadurch untergraben? Kann man das vermeiden? Hier ist die grösste Unsicherheit – nicht nur in Europa, sondern auch international. Ich bin allerdings relativ guter Dinge, dass die Ziele weiterhin aufrechterhalten werden. Aber wenn diese kurzfristigen Signale an andere Länder gesendet werden und diese deshalb anders handeln, dann kann das auch sehr negative Folgen mit sich bringen.
Das Gespräch führte Nicolas Malzacher.